Im Land der Feuerblume: Roman
nicht fliehen. Er würde zusammenbrechen und liegen bleiben, befürchtete er, direkt neben dem toten Vater.
Ja, der Vater war tot, das wusste er plötzlich, ohne auf ihn zu blicken.
Da umschloss ihn Gretas Hand, warm und fest.
»Komm … komm endlich.«
Er folgte ihr willenlos, stand im Freien, ehe er begriff, wie er dorthin gekommen war. Da war der Trog …
»Wasch dich!«
Als er sich nicht rührte, packte Greta ihn am Nacken, zwang ihn, sich zu beugen, und wusch ihn ab. Er fühlte ihre Hände überall, und überall wurde ihm siedend heiß.
»Du … du darfst es ihnen nicht sagen«, stammelte er.
»Das werde ich nicht. Nie. Niemals. Aber du auch nicht.«
Wieder nahm sie ihn an der Hand, und er überließ sich willenlos ihrer Führung. Gemeinsam erreichten sie die anderen Siedler und schlossen sich wortlos ihrem Aufbruch an.
Moritz Weber hatte eine schreckliche Nacht hinter sich. Die Magenkrämpfe hatten mittlerweile nachgelassen, doch seine Beine zitterten immer noch vor Schwäche. Das letzte Mal, als er sich im Gebüsch erleichtert hatte, war er hinterher so erschöpft gewesen, dass er es nicht mehr zurück ins Haus geschafft hatte. Er war einfach auf den feuchten Boden gesunken und eingeschlafen. Als er erwachte und sich aufrappelte, fühlten sich sämtliche Glieder steif an und waren klamm vom Tau.
Er blickte sich um. Ob jemand ihn im Zustand der Schwäche beobachtet hatte? Mit Erleichterung stellte er fest, dass weit und breit niemand zu sehen war. Doch die Erleichterung wandelte sich rasch in Unbehagen, als er auch nichts hörte: kein Gemurmel, keine Schritte, nichts vom üblichen morgendlichen Treiben, wenn sich die Siedler für den Tag rüsteten. Totenstille hing über Baracken, und als er darauf zuschritt, kehrten die Magenkrämpfe zurück. Diesmal löste nicht verdorbenes Essen sie aus, sondern Entsetzen.
»O nein!«
Er sah das Gewehr schon von Ferne auf dem Boden liegen, achtlos zurückgelassen von jemandem, der der Waffe nicht länger bedurfte. Als er es erreicht hatte, starrte er eine Weile darauf hinab, wagte aber nicht, sich zu bücken und es aufzuheben. Der Boden war aufgewühlt von Fußtritten.
»O nein!«, stammelte er wieder.
Er spitzte die Ohren, immer noch herrschte Totenstille. Kaum wagte er es, die Baracke zu betreten, lugte vielmehr nur vorsichtig durch den Spalt. Leer war der langgezogene Raum, leer, bis auf …
»O nein!«
Er stürmte auf den Vater zu, der dort mit hochrotem Gesicht an einem Stuhl gebunden saß, den Mund geknebelt, so dass er keinen Ton hervorbrachte, obwohl der Schweiß auf seiner Stirn verriet, wie sehr er sich darum bemühte. Rasch riss Moritz ihm den Knebel vom Gesicht.
»Ist das alles, was dir einfällt?«, blaffte Konrad ihn an. »Immer nur ›O nein!‹ zu rufen?«
Moritz löste die Fessel, und kaum hatte der Vater wieder Bewegungsfreiheit, sprang er auf und stampfte wütend auf dem Boden auf.
»Wo hast du nur gesteckt, du verdammter Hurensohn? Wie konnte das passieren? Du …«
Glühend rot lief sein Gesicht an.
Moritz duckte sich in Erwartung eines Schlags, und schon ballte Konrad die Fäuste. Aber dann schoss Moritz ein Gedanke durch den Kopf, und anstatt gebückt zu verharren, richtete er sich auf und sah dem Vater herausfordernd ins Gesicht. So unerwartet war für diesen jene Regung, dass er verwirrt zurückzuckte.
»Schlag mich doch!«, rief Moritz. »Aber jetzt, da sie weg sind und sie dir nicht diesen verfluchten Wald abholzen können, da brauchst du mich dringender als je zuvor!«
Sie maßen sich mit kalten Blicken. Am Ende trat Konrad noch weiter zurück und ließ seine Fäuste sinken.
»Verdammtes Pack!«, knurrte er. »Eines Tages werde ich es ihnen heimzahlen!«
Der Boden vibrierte, als er davonstapfte. Unwillkürlich musste Moritz Weber lächeln.
16. KAPITEL
D ie erste Wegstrecke war ihnen vertraut, erinnerte sie doch an den Gang zur täglichen Arbeit. Die Bäume standen eng beieinander, aber dazwischen führten ausgetretene Wege vorbei. Nicht lange jedoch, und die Myrten, Chisquen und das Baccharisgestrüpp wuchsen so dicht am Boden, dass es kaum noch ein Fortkommen gab. Zwischen den Araukarien standen Bäume, die Buchen und Zedern glichen. Manche Äste hingen so tief, dass sie sich ducken mussten, um hindurchzukommen, und hin und wieder reichte nicht einmal das. Geäst und Blätterwerk schienen regelrecht zu Zäunen zusammenzuwachsen, die die Flüchtigen aufhalten wollten, und erst wenn die Männer mit Äxten und
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