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Im Land der Feuerblume: Roman

Im Land der Feuerblume: Roman

Titel: Im Land der Feuerblume: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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blieb. Wieder schüttelte er sich – ohne Erfolg.
    Ein helles Lachen ertönte neben ihm, dann zog Barbara Glöckner es ihm aus dem Gesicht – ein handgroßes, nasses Blatt, das von einem der Bäume direkt auf ihn gesegelt war. Sie hörte gar nicht mehr zu lachen auf, und obwohl Poldi sich zunächst bloßgestellt gefühlt hatte, überwog schließlich das Erstaunen, dass in der tristen Lage überhaupt noch jemand derart herzlich lachen konnte. Er musterte sie eingehender und sah die Grübchen auf ihren Wangen. Mochte ihre Gestalt auch ausgezehrt sein wie die von allen anderen – die Wangen waren erstaunlich rund und rot.
    Unvermittelt stimmte er in ihr Lachen ein. Sosehr ihn die Nässe, der Hunger und die Ungewissheit quälten – am meisten setzte ihm der bittere Ernst zu, der seit ihrem Aufbruch über ihnen hing wie eine dunkle Wolke. Mit jeder Stunde schien nicht nur der Urwald immer unheimlicher und verwunschener zu werden, sondern auch die Laune aller hatte sich zunehmend getrübt. Selbst das Katherl lächelte nicht mehr, und während sie alle schweigend vor sich hin stapften, hatte Poldi den Eindruck, sie würden keinem neuen Leben entgegengehen, sondern jemanden zu Grabe tragen.
    Eigentlich war das Leben in Chile bisher stets nur freudlos gewesen. Auf dem Schiff hatte er noch seinen Spaß gehabt; er hatte Streiche ausgeheckt, seine Schwestern veralbert und Elisa von Graberg zum Lachen gebracht. Doch hier war ihm in all der Ärmlichkeit und Schufterei die Lust darauf vergangen.
    »Weiter geht’s!«, unterbrach eine Stimme Barbaras Lachen.
    Wie immer war es Fritz, der sie antrieb.
    Und wie immer schimpfte Poldi im Stillen auf den Bruder, wahrscheinlich kommt ihm das trübsinnige Wetter gerade recht; so fällt es noch weniger auf, dass er nie lächelt, selbst bei Sonne nicht!
    Er stapfte fluchend weiter und bemerkte erst nach einigen Schritten, dass Barbara Glöckner an seiner Seite geblieben war und nach wie vor lächelte. Es war noch nicht sicher, was man von den Tirolern halten konnte. Das hatte zumindest seine Mutter, die den Glöckners sehr höflich, jedoch niemals freundlich begegnete, kurz vor dem Aufbruch gesagt.
    Nun, es war leicht, mit dieser Freundlichkeit bei Taddäus Glöckner zu sparen, dessen Blick so starr und gleichmütig in die Welt gerichtet war, und ebenso bei den Kindern der beiden, Resa und Andreas, die entweder dümmlich wirkten oder weinerlich. Aber Barbaras Lächeln zu erwidern fiel Poldi leicht, auch wenn ihm deswegen die Röte ins Gesicht schoss. Schweigend gingen sie nebeneinander her, und obwohl die Stille, unterbrochen nur vom Knirschen des Geästs oder dem Schreien von Vögeln, schon all die letzten Tage über ihnen lastete, tat sie ihm plötzlich in den Ohren weh. Er wusste nichts zu sagen, und so begann er, einfach zu summen, irgendein Lied, das er von Kindesbeinen an kannte.
    »Du kannst singen?«
    Poldi fühlte sich ertappt, als hätte er etwas Verbotenes getan, und brach das Summen ab.
    »Nur zu!«, forderte Barbara ihn auf. »Als ich ein Kind war und wir noch im Zillertal lebten, nicht in Schlesien, da mussten wir oft lange Märsche ins nächste Dorf machen. Um etwas Wolle zu verkaufen oder Käse. Auf dem Rücken hatten wir das geschultert, mit einer Kraxn, so hieß das, und dann ging es los. Wir brachen vor dem Morgengrauen auf und kamen immer erst nach der Dämmerung zurück, und ich glaube nicht, dass ich diese langen, steilen Wege überstanden hätte, wenn wir – meine Schwestern, meine Mutter und ich – nicht gesungen hätten.«
    Sie machte eine kurze Pause, dann setzte sie mit einer melodiösen, kräftigen Stimme an. Poldi konnte sich nicht erinnern, jemals einen Menschen so schön und klangvoll singen gehört zu haben. Seine Mutter hatte ihm manchmal Schlaflieder vorgesungen, aber irgendwie waren diese meist krächzend geraten. Barbara hingegen sang aus voller Kehle.
    Poldi drehte sich um; Resa und Andreas gingen nicht weit hinter ihnen mit gesenkten Köpfen. Dass die Mutter sang, war für sie wohl nichts Ungewöhnliches.
    »Das habt ihr in Tirol gesungen?«
    »Nein, das ist eine schlesische Weise.«
    Kurz verschwand das Lächeln von ihrem Gesicht, und ihr Blick wurde wehmütig. »Zuerst haben wir Tirol verlassen müssen, dann Schlesien, und jetzt sind wir hier und haben immer noch keine Heimat gefunden.«
    Er wusste nicht, warum, aber er wollte nicht, dass sie traurig dreinblickte. Er wollte, dass die lächelte und sich auf ihren Wangen Grübchen zeigten.

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