Im Land der Feuerblume: Roman
Drang nach Fürsorge durchaus nachfühlen. Greta erweckte den Eindruck eines Vögelchens, das aus dem Nest gefallen war. Doch Elisa ärgerte es, dass Greta ansonsten jede freundliche Geste schroff abwies, bei Cornelius jedoch ihr allerliebstes Lächeln aufsetzte. Sie wusste, dass sie ihr das nicht vorwerfen, sondern sich lieber darüber freuen sollte, dass Greta zumindest zu einem ihrer Gemeinschaft – nebst dem seltsamen Bruder – Vertrauen fasste, aber als sie sie mit geröteten Wangen auf Cornelius einreden sah, hatte sie das Gefühl, Greta würde sich unrechtmäßig nehmen, was ihr nicht zustand und was sie nicht verdiente.
»Wie sie es nur geschafft hat, dem Bruder zu entkommen?«, entfuhr es ihr bitter.
Für gewöhnlich sah man die Geschwister nur zu zweit. Christl behauptete mit spitzer Zunge, dass Viktor seine Schwester wie eine Sklavin hielte und manchmal schlagen würde, wie einst sein Vater Lambert – aber Christl redete viel, wenn der Tag lang war. Fest stand, dass Viktor sich mit den Jahren immer mehr abgesondert hatte und sich nur auf Drängen der Schwester manchmal blicken ließ. Seit Jahren hatte er sich nicht mehr rasiert. Sein Bart wucherte dreckig bis zu seiner Brust, und sein Haar fiel ihm tief in die Stirn. Resas und Poldis kleine Töchter erschraken zutiefst bei seinem Anblick, was Elisa ihnen nicht verdenken konnte.
Annelie zuckte mit den Schultern. »Cornelius ist der Einzige, der von Herzen freundlich zu ihr ist, gönn ihr das doch.«
»Habe ich etwa gesagt, ich würde es ihr nicht gönnen?«, fuhr Elisa sie an. Noch mehr lag ihr auf der Zunge: dass sie Cornelius sogar wünschte, er möge eine Frau finden! Aber dass doch Greta unmöglich die Richtige sein könnte! Lenerl, die sich seit kurzem weigerte, auf den Namen ihrer Kindheit zu hören, und von allen nur mehr mit Magdalena angeredet werden wollte, wäre besser geeignet – und mit dieser las er auch manchmal in der Bibel. So fürsorglich wie zu Greta war er zu ihr jedoch nie.
Ein eindringliches »Mama!« riss sie aus den Gedanken. Ricardo zog an ihrem Rock und hielt anklagend ein zähes Stück Fleisch hoch, das er nicht beißen konnte. Er war immer gekränkt, wenn etwas nicht so lief, wie er es wollte, wenn die älteren Brüder ihn schikanierten, wenn er ihnen beim Laufen nicht nachkam, wenn er ausglitt und seine Hosen sich mit Schlamm vollsogen.
Elisa nahm ihm das Fleisch weg, hob ihn hoch und drückte ihn fest an sich. Lukas wusste mit seinem jüngsten Sohn wenig anzufangen und hielt ihn wegen des häufigen Greinens für verweichlicht. Elisa hingegen war gerührt, wenn er sein verzweifeltes Gesichtchen zog, und hatte oft das Gefühl, dass er stellvertretend für sie zeigen dürfte, was in ihrem eigenen Herzen wucherte und doch von Gleichmut verborgen bleiben musste.
Heute währte sein Kummer nicht lange. Nach einer Weile drängte er darauf, wieder vom Arm der Mutter gelassen zu werden, und lief auf seine Großmutter zu. Für gewöhnlich glänzten Christines Augen beim Anblick ihrer Enkelsöhne, doch obwohl er ihr die Ärmchen entgegenstreckte, missachtete sie Ricardo.
Seit Jule Pläne hegte, eine Schule zu gründen, war Christine auf ihrer Seite gestanden, doch offen zugeben konnte sie das nur selten. Sie wurde nicht müde, stets die gleichen Spitzen auszuteilen – genauso wenig wie Jule die Lust verlor, ihr zu widersprechen.
»Jetzt ist es so weit«, murrte Christine. »Jetzt sind unsere Kinder bald in der Lage, unseren Kühen etwas vorzulesen. Möchte nur hoffen, dass sie darüber nicht vergessen, wie man sie melkt.«
»Wär’s dir denn lieber, wenn sie vor lauter Melken irgendwann nur mehr so dümmlich glotzen wie das äsende Vieh?«, gab Jule zurück. »Arbeit gibt’s hier noch für viele Generationen, die wird keiner verlernen. Aber wir haben aus Deutschland mehr mitgebracht als Pflug und Ochse – und das muss bewahrt bleiben.«
»Erstaunlich aber ist, dass ausgerechnet du unsere Kinder erziehen willst, während du dich um die eigenen nicht geschert, sondern sie einfach im Stich gelassen hast.«
»Wenn du Angst hast, dass ich deine Kinder verderbe, kannst du dich gerne in meine Schule setzen und mich überwachen.«
»Pah! Wüsst’ nicht, was ich von dir lernen könnte. Nur durch die Hände, nicht durch den Kopf erwirbt man hier etwas.«
»Aber besser ist doch, der Kopf weiß, was die Hände tun.«
»Und wo bleibt das Herz bei der ganzen Sache? Ich habe nicht den Eindruck, dass du Christls, Poldis und
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