Im Land der Feuerblume: Roman
der erste Laut, den sie inmitten des Rauschen ihres Bluts wieder vernahm –, als sie erkannte, dass einige der Reiter Fackeln trugen und erst die Vorratkammern anzündeten, dann den Stall. Durchdringender und panischer noch als ihr eigener Schrei war das Muhen der Kühe.
Jetzt endlich konnte sie sich aus der Starre lösen. Sie bemerkte, dass sie einen Eimer mit Wasser in Händen hielt. Annelies Porzellan, fiel ihr ein, sie war beim See gewesen, um Wasser zu holen, damit sie gemeinsam das Geschirr abwaschen konnten …
Hastig wollte sie mit dem Eimer auf das Feuer losstürmen, es notdürftig löschen und irgendwie die Rinder retten, doch im nächsten Augenblick lag sie auf dem Boden, und das Wasser tropfte kalt über ihre Beine. Sie war nicht gestolpert, wie sie zunächst noch dachte. Ein Schatten hatte sich ihr genähert, sie niedergestoßen, lag nun auf ihr, nein, es war kein Schatten, es war einer von den langhaarigen, dunklen Männern. Schließlich zerrte er sie hoch und warf sie sich über den Rücken. Sie schrie, strampelte, schlug wild um sich. Irgendwo musste sie ihn schmerzhaft getroffen haben, denn unvermittelt ließ er sie fallen. Sie krachte mit der Schulter auf den Boden und hatte das Gefühl, dass sämtliche Knochen brachen.
»Elisa!«
Sie hatte sich kaum aufgerappelt, als sie ihren Vater kommen sah, die Hände erhoben und furchterregend eine Sense schwingend – ja, ihr Vater, der oft so träge, melancholische Richard, dessen fehlenden Arbeitseifer man damit schönredete, dass er nicht faul, sondern eben krank sei. Sie selbst zumindest hatte ihn immer so verteidigt und hatte im Stillen doch damit gehadert, warum er nicht öfter nach ihrem Wohl fragte, warum er zwar dankbar hinnahm, dass sie Enkelsöhne geboren hatte, aber nie auch nur daran dachte, welches Opfer sie dafür brachte. Doch nun zögerte er nicht mit jener Sense, die sie so oft an seiner statt geschwungen hatte, um unter Einsatz des eigenen Lebens die Tochter zu retten.
»Nicht!«, kreischte sie.
Sie sah lange vor ihm das Pferd kommen; der Reiter steuerte unmittelbar auf Richard zu, aber hielt sein Tier nicht an, als er ihn erreicht hatte, zertrümmerte vielmehr im Vorbeireiten irgendetwas auf seinem Kopf. Elisa sah nicht, was es war – nur, dass die Wucht ausreichte, seine Knochen bersten zu lassen. Rot spritzte es auf, und obwohl sie schon in diesem Augenblick wusste, dass er diesen Schlag unmöglich überleben konnte, fiel Richard von Graberg nicht hin, sondern blieb kurz aufrecht stehen. Ihre Blicke trafen sich, und seiner war wach – viel wacher als in den letzten Jahren. Kein Schmerz und kein Schock standen darin, kein Hader und auch nicht jene gleichgültige Leere, die sie oft geschmerzt hatte, sondern nur Stolz und Liebe – so überreich, als hätte sie nie mühsam um sie ringen müssen.
Dann sackte er nieder.
»Vater!«
Sie wollte zu ihm laufen, konnte es jedoch nicht. Pranken umfassten sie von hinten, bändigten sie an den Handgelenken, zerrten diese auf ihren Rücken. Erbittert wehrte sie sich dagegen, schreiend und tretend. Doch der unbarmherzige Griff ließ nicht nach. »Hilfe!«, schrie sie, ihre Kräfte schwanden, »So helft mir! So …«
Plötzlich verstummte sie. Nicht weit von dem Fleckchen, wo ihr Vater lag und wo sich eine blutige Lache ausbreitete, sah sie Annelie vorbeihuschen. Sie floh in eine der tief in den Boden eingegrabenen Gruben, in der sie Kartoffeln aufbewahrten. Zunächst verkroch sie sich ganz tief darin, dann streckte sie plötzlich wieder den Kopf heraus, um ängstlich nach der Stieftochter Ausschau zu halten. Sämtlicher Widerstand, den Elisa dem Angreifer entgegengebracht hatte, erlahmte. Mit jeder Faser ihres Körpers versuchte sie, Annelie ein Zeichen zu geben, sich nicht zu rühren und ihr erst recht nicht zu Hilfe zu kommen. Denn Annelie war nicht allein. Sie trug Ricardo auf dem Arm, der sich wand und laut nach seiner Mutter schrie. Elisa sah, dass Annelie ihre Hand auf seinen Mund schlug, um das Geschrei zu dämpfen, und sich endlich bückte, um sich ganz tief in die Grube zu kauern, wo sie geschützt war.
Elisa war so erleichtert, Ricardo in Sicherheit zu wissen, dass sie sich von ihrem Angreifer mitzerren ließ. Erst nach etlichen Schritten, da sie glaubte, er würde ihr die Arme ausreißen, und ihre Beine bis zu den Knien blutig aufgeschürft waren, erwachte erneut Widerstand.
Ja, Ricardo war in Sicherheit – aber wo hatten sich die anderen beiden Söhne
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