Im Land der Feuerblume: Roman
der eigenen Ernte abzugeben, doch sie hatten selbst ihre Familien zu ernähren. Ihre Großzügigkeit würde ihnen eine Weile helfen – jedoch nie und nimmer über den ganzen Winter.
Nicht nur Elisa erging sich in Sorgen. Auch Annelie konnte ihre Mutlosigkeit nicht verbergen. Sie nahm Richards Namen nur selten in den Mund, und Elisa sah sie nie um ihn weinen, aber ihre Augen glänzten nicht, als sie vorschlug, sie sollten möglichst viele Avellano-Nüsse sammeln, man könnte diese kochen und essen. Und sie hätte von einer klebrigen, wohlschmeckenden Rinde gehört – wenn sie nur wüsste, wie sie aussähe –, auch davon könnten sie sich ernähren. Doch obwohl sie sich viele Gedanken um das Essen machte, so fehlte ihre übliche Entschlossenheit, ja Kampfbereitschaft, aus wenig viel zu machen. Sie kochte und buk nicht und ging auch nicht selbst in den Wald, um nach Früchten oder Pilzen zu suchen. Alles, was sie sagte, schien sie selbst nicht zu betreffen.
Nachdem ihr die Ideen ausgingen, wie sie möglichst viel Essen herbeischaffen könnten, schlug Christine vor, dass die Männer Wildschweine jagen sollten.
Geantwortet wurde mit einem Schulterzucken. Schon früher hatte sich dergleichen als nutzloses Unterfangen herausgestellt. Sie wussten zwar, dass im Wald Wildschweine lebten, doch sie waren so scheu, dass man sie nur selten sah, und das Unterholz war zu dicht, um ihnen nachzujagen.
Die Männer – Poldi, Cornelius, Andreas und Lukas – entschieden sich darum auch nicht für die Jagd, sondern dafür, nach Puerto Montt, dem einstigen Melipulli, aufzubrechen. In der Anfangszeit hatten sie regelmäßig ihre Rationen dort bekommen, doch nach den ersten reichen Ernten waren sie nicht länger als Bittsteller erschienen, sondern hatten Würste, Schinken und Kräuter, manchmal auch Butter und Brot verkauft.
Elisa half Lukas, sich für die Reise zu rüsten. Im vermeintlich fröhlichen Tonfall sprach er über die Stadt, als sei es eine angenehme Abwechslung, wieder einmal vom See wegzukommen und zu erfahren, was sich dort alles verändert hatte. Die einstigen Baracken waren längst niedergerissen worden, stattdessen waren eine Bierbrauerei, eine Schlosserwerkstatt und eine Ziegelbrennerei entstanden. Schiffsbauer und Schneider, Metzger und Bäcker hatten sich niedergelassen, und Franz Geisse hatte nicht nur eine Knaben-, sondern auch eine Mädchenschule gegründet.
Lukas sprach in einem fort, doch als er das Bündel mit dem mageren Proviant schulterte, ächzte er plötzlich.
Elisa sah ihn besorgt an. Er sprach ungern über die Schmerzen, die seine Kopfverletzung verursachten, und ließ immer nur Jule, nie seine Frau, danach sehen. »Es geht schon, es geht schon«, war das Einzige, was er dazu zu sagen hatte, und ihre Ängste wegen des früh einbrechenden Winters hatten Elisa zunächst vom Zustand ihres Mannes abgelenkt. Jetzt musterte sie ihn allerdings eindringlich und stellte erschrocken fest, in welch tiefen, dunklen Höhlen seine Augen verschwanden. Nicht nur von Auszehrung kündeten sie, sondern auch von fortwährenden Beschwerden, obwohl er sich jeden weiteren Schmerzenslaut verkniff.
»Bist du sicher, dass du nach Puerto Montt gehen kannst? Solltest du nicht besser hierbleiben?«, fragte sie.
»Ach was!«, rief er leichtfertig. »Nach Osorno wäre es vielleicht zu weit, aber nach Puerto Montt schaffe ich es.«
Elisa zweifelte daran, wusste sie doch, wie diese Märsche aussahen: Kaum Verpflegung hatten die Männer dabei, sie mussten sich mühsam durch Schlamm und Wald quälen und des Nachts unter Bäumen schlafen.
»Es reicht doch, wenn die anderen …«, setzte sie an.
»Bitte!«, unterbrach Lukas sie. »Ich muss es tun!«
Sein erschöpfter Blick wurde flehentlich, und erst jetzt begriff sie, wie ohnmächtig er sich gefühlt haben musste, als die Mapuche sie verschleppt hatten und er nicht unter denen sein konnte, die sie befreien wollten. Und gewiss trieb ihn noch etwas anderes an: der Wunsch, Fritz zu ersetzen, dessen Fehlen Christine lauter beklagte als das der Männer, die den Tod gefunden hatten.
»Du musst mich nicht um Erlaubnis fragen«, murmelte Elisa widerstrebend. »Wenn du denkst, dass du gehen musst, dann geh!«
»Aber du sollst wissen, dass ich es für dich tue … für unsere Söhne.«
Elisa folgte seinem Blick. Leo und Lu hatten von dem kindlichen Glauben, dass das Leben ein großes Abenteuer und die Welt grundsätzlich verheißungsvoll war, nichts eingebüßt. Beim
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