Im Land der Feuerblume: Roman
öfter passiert, dass über Monate kein Schiff anlegte und die Bewohner hungern mussten.«
Jule runzelte die Stirn. Annelie sah so betroffen aus, als würde sie jeden Augenblick zu weinen beginnen.
Poldi dagegen stampfte wütend auf. »Ruiz de Arce ist der größte Versager, den man sich auf Gottes Erdboden nur denken mag!«, schrie er.
Erst nach einer Weile begriff Elisa, wer das war – ein Händler von Ancud nämlich, der üblicherweise den Transport von Nahrungsmitteln nach Puerto Montt überwachen sollte.
»Und nun?«, fragte Elisa. Ihr Magen zog sich zusammen, nicht nur vor Hunger, sondern auch vor Furcht.
»Hier … das haben wir mitgebracht.«
Cornelius stellte einen Bambuskorb mit den mageren Mitbringseln auf den Boden. Am Meeresstrand von Puerto Montt hatten sie Fische gefangen und Muscheln gesammelt, und bei dem Marsch durch den Wald Pilze und Beeren gepflückt. Alles zusammen sah mickrig aus; drei, vielleicht vier Tage würde es sie satt machen, aber was kam dann? Wann würde in Puerto Montt das nächste Schiff anlegen?
Es war Juli geworden, der Winter hatte eben erst begonnen.
»Fritz«, murmelte Christine. Es war das erste Mal seit langem, dass sie seinen Namen in den Mund nahm. »Fritz wird uns doch etwas schicken! Er wird uns nicht im Stich lassen!«
Cornelius schüttelte düster den Kopf. »Er wird es gewiss versuchen, aber die Wege sind jetzt im Winter unpassierbar. Und der See ist zu unruhig, als dass sich ein Boot darüber wagt.«
Schweigend standen sie eine Weile beisammen.
»In einem Monat … in einem Monat gehen wir wieder nach Puerto Montt.«
Es waren die ersten Worte, die Lukas sagte, und erst jetzt musterte Elisa ihren Mann eingehender. Erschöpft wirkten sie alle, doch keiner war so blass wie er. Seine Augen waren noch tiefer in den Höhlen versunken. Am Abend nach ihrer Rückkehr fing er zu husten an – und hörte nicht mehr damit auf.
Elisa konnte nächtelang nicht schlafen. Sorgen hielten sie wach, der Hunger, der manchmal zu Übelkeit führte, manchmal zu schmerzhaften Magenkrämpfen, und Lukas’ Husten. Er kämpfte damit, ihn zu unterdrücken, schaffte es jedoch nicht. Jedes Mal, wenn er von neuen Anfällen geschüttelt wurde, klang sein Atem noch röchelnder. Am Morgen nach einer besonders schlimmen Nacht verlangte sie von ihm, dass er im Bett bleiben und sich ausruhen müsse, doch er schüttelte stur den Kopf, stand auf und ging nach draußen, um das Dach einer Vorratskammer zu reparieren – was seinen stetigen Husten etwas übertönte.
Elisa lag es auf der Zunge, ihm vorzuhalten, dass sie diese Kammer nicht brauchten, wo es doch keine Vorräte aufzubewahren gab, aber dann schwieg sie. Sie ahnte, dass ihm das Hämmern die Gewissheit schenkte, Herr der Lage zu sein – so wie Annelie nun wieder das Kochen aufnahm, obwohl es kaum etwas zu kochen gab. Von ihnen allen setzte ihr der Hunger am wenigsten zu. Und als die Trauer um Richard langsam von ihr abfiel, wurde sie wieder erfindungsreich. Mit Lu und Leo streifte sie durch die Wälder, kam mit Wildbeeren, Haselnüssen und kleinen Samen, die wie Pinienkerne schmeckten, zurück und mischte sie unter den Eintopf aus Kraut und Kartoffeln – zumindest solange sie beides hatten.
Als die drei Säcke, die sie von den Tiroler Nachbarn hatten, zur Neige gingen, blieb Annelie noch länger in den Wäldern und kam mit Körben voller Gurgai zurück – einem Pilz, der sich nach starken Regenfällen an der Rinde einiger Bäume bildete und wie Blumenkohl schmeckte.
»Und wenn er giftig ist?«, fragte Elisa zweifelnd.
Annelie zuckte die Schultern, Jule hingegen meinte bitter: »Na großartig! Immerhin bleibt uns die Freiheit zu entscheiden, ob wir an einem giftigen Pilz sterben oder am Hunger.«
Als giftig stellte sich der Gurgai nicht heraus, aber richtig satt machte er auch nicht – genauso wenig wie das Stück Leder, das Annelie eine ganze Nacht hindurch in einem Topf Wasser weich kochte und das sie am nächsten Morgen mühsam herunterwürgten, um zumindest etwas im Magen zu haben.
Lu und Leo weigerten sich zunächst, es zu essen, doch Jule schmatzte vermeintlich genießerisch mit dem Mund und rief: »Wie? Ihr wollt euch entgehen lassen, Schuhe und Sattel zu essen?«
Das fanden die Knaben wiederum so lustig, dass sie eine Weile erst recht nichts essen konnten, sondern kicherten. Der ungewohnte Laut befremdete Elisa – und stimmte sie zugleich erleichtert. So ausgemergelt waren die Kinder wohl nicht, wenn sie
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