Im Land der Feuerblume: Roman
ließen ihren Blick über die zerstörten Felder und Vorratskammern schweifen. Bis auf den dürren Hahn und ihre Pferde, so hatte sie erfahren, waren alle Tiere tot.
Elisa fröstelte noch mehr. Der Winter schien in diesem Jahr früher als sonst zu kommen.
Greta stand auf der Türschwelle ihres Hauses.
Sie wagte es nicht, einfach ins Freie zu gehen, aber zugleich war sie nicht bereit, ins Haus zurückzukehren, auch dann nicht, als Viktor sie mehrmals dazu aufforderte. Sie tat, als hätte sie ihn nicht gehört.
»Sie betrauern die Toten«, sagte sie leise. »Wir … wir sollten bei ihnen sein.«
Von ihrem Haus aus konnte man die Gräber nicht sehen, aber man hörte in der Ferne Gemurmel. Das glaubte sie zumindest – vielleicht war es auch nur der Wind, der um das Haus pfiff.
»Du gehst dort nicht hin!«, befahl Viktor schroff. Panik lag in seiner Stimme. Sie wusste, dass er dicht hinter ihr stand, es aber dennoch nicht wagte, näher zu kommen, so, als wäre ein unsichtbarer Bannkreis zwischen sie gezogen.
Sie drehte sich langsam zu ihm um, blieb jedoch auf der Schwelle stehen. »Und wenn ich es will?«
Er schüttelte den Kopf und wirkte so verzweifelt, als hätte er einen engen Angehörigen verloren, nicht die von Grabergs oder Glöckners.
»Du teilst ihre Trauer doch gar nicht! Du könntest gern darauf verzichten, ihnen dein Beileid ausdrücken! Du möchtest nur zu ihnen, weil du Cornelius sehen willst, das weiß ich ganz genau. Aber schlag ihn dir aus dem Kopf. Cornelius liebt Elisa und nur sie.«
Er klang trotzig wie ein kleines Kind.
Greta senkte ihren Kopf und starrte auf die Schuhspitzen.
»Was weißt du schon davon?«
Vorsichtig trat er einen Schritt näher. »Ich weiß, dass ich dich mehr liebe, als Cornelius es jemals könnte.«
Greta lachte trocken auf. Manchmal hatte sie Angst vor Viktor. Manchmal fühlte sie eisige Verachtung. Und manchmal fragte sie sich verzweifelt, wie lange sie seinen trotzig-weinerlichen Tonfall noch ertragen konnte.
»Und was nutzt mir das?«, zischte sie. »Du bist doch nur mein Bruder …«
Sie blickte nicht hoch, nahm nur aus den Augenwinkeln wahr, wie er den unsichtbaren Bannkreis endgültig überschritt und auf sie zustürzte. Sie war sich nicht sicher, ob er sie umarmen oder schlagen würde. Beides geschah oft, und beides so plötzlich und willkürlich, dass sie es meist nicht kommen sah. Sie hatte gelernt, dass es schneller vorbeiging, wenn sie sich nicht wehrte, sondern es einfach über sich ergehen ließ – genauso wie später sein Schluchzen und seine Selbstbezichtigungen, wenn er ihr eine Ohrfeige verpasst hatte. Meist küsste er die roten Flecken, die sich auf ihren Wangen gebildet hatten und in den nächsten Tagen bläulich anliefen. Dann konnte sie seine klebrigen Tränen spüren, und wenn sie auf ihre Lippen perlten, sogar schmecken.
Heute schlug er sie nicht; er packte sie nur an den Händen und zog sie hinein. Sie stolperte beinahe über die Schwelle, konnte sich dennoch aufrecht halten.
»Du gehst doch nicht, oder? Du gehst doch nicht?« Er klang noch panischer als zuvor, als ginge es nicht um ihre Anwesenheit bei der Trauerfeier, sondern um die Entscheidung, weiterhin ihr Leben mit ihm zu teilen oder nicht.
Gretas Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Sie wusste genau, wie dieses Lächeln wirkte. Einmal war sie vor der glatten Oberfläche des Sees gestanden, hatte hineingestarrt und sich selbst auf diese Weise angelächelt – gequält und zugleich spöttisch, traurig und zugleich grausam.
»Nein, ich gehe nicht, ich bleibe.«
Ihr Lächeln verstärkte sich, und er ließ sie los, zutiefst verwirrt plötzlich, als sei das, was er sich eben noch erbittert gewünscht hatte, in Wahrheit seine größte Strafe.
29. KAPITEL
D er Herbst war kalt, nass und grau. War es immer so gewesen, dass zu dieser Jahreszeit die Sonne seltener schien, oder wirkte das Leben so trüb, weil die Ernte ausgeblieben war und die Vorratskammern klaffende Leere aufwiesen?
An das Wetter im letzten Jahr konnte sich Elisa kaum erinnern – jedoch noch allzu gut daran, wie sie voller Stolz auf die Berge von Kartoffeln und Getreidesäcken geblickt hatte, an die Dankbarkeit, dass sie die Mahlzeiten nicht länger rationieren und nicht wochenlang nur Kraut essen müssten wie in den Jahren nach ihrer Ankunft. Nun wäre sie schon froh gewesen, wenn sie den Winter über wenigstens genügend Kraut gehabt hätten.
Einige der Tiroler Nachbarn waren bereit, ihnen etwas von
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