Im Land der Feuerblume: Roman
mit Ricardo auf der Welt. Annelie, das wusste sie, kam einmal mit Kartoffeln – den ausgegrabenen Saatkartoffeln –, doch da war Ricardo schon zu schwach, um etwas zu essen. Lukas nahm sie nur wie einen Schatten wahr, der – nicht minder hilflos wie Ricardos Brüder – auf das kranke Kind starrte und stets rasch wieder ging, um weiter an der Vorratskammer zu zimmern. Er hustete selbst immer noch, aber Elisa – einzig darauf bedacht, dass ihr kein Lebenszeichen von Ricardo entging – achtete nicht auf das Befinden ihres Mannes.
Am dritten Tag ließ Ricardos Husten nach, aber sein Fieber stieg an.
»Wir müssen einen Arzt holen!«, schrie Elisa, obwohl sie wusste, dass es keinen gab. Zumindest nicht hier am See. In Puerto Montt lebte ein Arzt namens Franz Fonck, und in Osorno hatte ein gewisser Doktor Herrguth seine eigene Apotheke aufgemacht, aber hier am See mussten sie sich selbst helfen.
»Vielleicht … vielleicht kann er doch herkommen«, klagte Elisa wider jede Hoffnung. »Irgendwie …«
»Aber es regnet doch«, sagte Annelie leise. »Es regnet seit drei Tagen.«
Sie hatte es gar nicht gemerkt.
Am vierten Tag hörte der Regen schließlich auf, und Ricardo schien erstmals seit langem wieder bei Bewusstsein, obwohl sein Gesicht nach wie vor glühte. Er murmelte etwas, und als Elisa sich dicht über ihn beugte, glaubte sie, seine Worte zu verstehen.
Eine Geschichte wollte er hören, eine Geschichte …am liebsten die von Feuerblume.
Vage erinnerte sie sich daran, dass Quidel früher den Kindern Märchen der Mapuche erzählt hatte. Sie selbst hatte es nie getan; die Zeit hatte ihr gefehlt, vielleicht auch die Lust. Nun erzählte sie die Geschichte der Feuerblume so mitreißend, so lebendig, so farbenfroh, wie sie nur konnte.
»Einst lebte eine Zauberin, die durch und durch böse war. Sie kannte weder Mitleid noch Gnade und liebte es, andere Menschen zu quälen. Als sie gewahrte, dass der junge Kalwuen, der Häuptlingssohn, sich in ein Mädchen aus dem Stamm verliebt hatte, so packte sie es und verschleppte es tief in den Urwald. Feuerblume hieß das Mädchen, und es irrte hilflos zwischen den riesigen Bäumen umher, ohne heimzufinden. Kalwuen erkrankte vor lauter Liebesweh und stand kurz vor dem Tod. Doch dann … dann kam die große, gute Erdenmutter Machi an sein Lager und rief: Steh auf, mein Sohn, steh auf!«
Voller Gram blickte Elisa auf Ricardo, und sie meinte, ihre Brust würde vor Weh zerspringen. Wie gerne hätte sie ihm das auch gesagt, dass er wieder aufstehen und zu Kräften finden solle! Doch das Einzige, was er konnte, war die Augen zu einem schmalen Schlitz zu öffnen. »Weiter …«, forderte er, »erzähl weiter …«
Und Elisa erzählte weiter: »Ja, das sagte Machi zum jungen Kalwuen: Steh auf und ziehe gen Süden, bis du zu dem Ufer eines großen Sees kommst, der von mächtigen Bergen umgeben ist. Dort wohnen meine zwei jüngsten Brüder, die Riesen Osorno und Calbucco. Die kannst du fragen, wo die böse Zauberin mit dem Namen Malacaitu haust.«
»Mala… Mala…«, versuchte Ricardo, den Namen nachzusprechen, schaffte es jedoch nicht. Er hustete trocken.
»Kalwuen tat, wie ihm geheißen, erhob sich vom Krankenbett und machte sich auf einen langen Fußmarsch. Er versank in der Erde des Waldes, und er wurde nass vom fortwährenden Regen, der von den Ästen und Blättern auf ihn perlte. Doch irgendwann schimmerte es silbrig durch die Baumriesen. Er hatte den See erreicht.«
»Unseren See …«, murmelte Ricardo und schloss die Augen.
»Ja«, sagte Elisa und konnte nur mühsam das Schluchzen unterdrücken, »unseren See …«
Sie war sich nicht sicher, ob Ricardo ihr überhaupt zuhörte, und fuhr dennoch fort: »Als Kalwuen den See erreichte, steckte sich Osorno gerade eine Pfeife an. Riesige Rauchwolken schossen in den Himmel. Und Calbucco begann, mit Flammen zu züngeln, weil das sein liebstes Spiel war. Kalwuen erschrak zutiefst, aber noch größer war seine Angst um Feuerblume. So wagte er sich zu den Riesen und fragte sie nach ihrem Verbleib. Abermals schossen Rauch aus dem Osorno und Flammen aus dem Calbucco, doch als sie sahen, dass Kalwuen sich nicht verschrecken ließ, sondern seine Liebe stark und aufrichtig war, da stellten sie das schaurige Schauspiel ein und wiesen Kalwuen den Ort, wohin die arme Feuerblume verschleppt worden war. Und wieder kämpfte er sich tagelang durch den hohen Wald, bis er endlich auf eine Lichtung stieß, wo rot die Copihue
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