Im Land der Feuerblume: Roman
Decke – von Lukas gezimmert, so wie alle Dächer hier … von Lukas, der jetzt für Ricardo einen Sarg machte.
»Er ist tot«, sagte sie leise. Zum ersten Mal konnte sie die bittere Wahrheit aussprechen. »Mein kleiner Ricardo ist tot.«
Cornelius sagte nichts. Er bekundete kein Beileid, nickte nicht einmal, nahm einfach ihre Hand und drückte sie fest.
Elisa ging wieder zurück ins Haus, wachte bei ihrem toten Kind und floh dann stets aufs Neue auf den Heuboden. Und immer folgte Cornelius ihr kurze Zeit später und war da, um gemeinsam mit ihr zu schweigen.
Das war so in den Tagen, in denen Lukas an Ricardos Sarg hämmerte – und das war auch noch so in den Tagen, als das Hämmern längst verklungen und der Sarg fertig war, man Ricardo in ihn gebettet und begraben hatte.
Elisa verlor jedes Zeitgefühl; sie wusste nicht, wie lange ihr Kind tot war; sie wusste nicht, ob ihre Trauer abnahm oder wuchs; sie wusste nicht, ob sie je wieder ins Leben zurückfinden würde oder ob es ihr immer fremder wurde. Sie wusste nur, dass es diese stillen Stunden mit Cornelius gab. Dann fühlte sie, dass tief vergraben unter Kummer und Schmerz noch etwas in ihr pochte, was nicht völlig erstarrt und betäubt war.
Am meisten half ihr, dass er gar nicht versuchte, sie zu trösten. Er überbrückte den letzten Abstand, der zwischen ihnen klaffte, nie. Sie selbst war es, die eines Tages kaum merklich näher an seinen Leib rückte und sich schließlich an ihn schmiegte.
Lange Zeit hatte sie sich mit aller Macht verboten, diese Wärme zu suchen und sie zuzulassen. Doch nun, da sich alles so tot und sinnlos anfühlte, gab es nichts, hinter dem sie sich verschanzen konnte, weder Stolz noch Ehrgefühl, weder Vernunft noch Gleichgültigkeit. Ein ödes Niemandsland schien zwischen ihr und der restlichen Welt aufzuragen, unfruchtbar und voller Gräber, nur Cornelius war an ihrer Seite, und es war gut, dass er da war. Als er sie an sich zog, begann sie zu weinen, und sie weinte noch mehr, als ihr aufging, dass es eigentlich schäbig war, sich in diesen dunklen Stunden kurz so wohl zu fühlen. Für diesen gestohlenen Moment nicht hungrig. Für diesen gestohlenen Moment nicht erschöpft. Für diesen gestohlenen Moment nicht tieftraurig.
Doch Scheu und Scham vergingen. Als sie nach einer Weile den Kopf hob und Cornelius anblickte, klang ihre Stimme nüchtern, fast kalt: »Es ist meine Schuld.«
»Wovon redest du?«, fragte er verwirrt. »Davon, dass der kleine Ricardo sterben musste? Aber das ist doch nicht deine …«
»Nein«, sagte sie rasch, »nein, das meine ich nicht. Ich habe für Ricardo getan, was ich konnte. Aber es ist meine Schuld, dass wir … dass wir beide nicht zusammen leben können. Ich habe dir versprochen, zu warten. Aber ich habe nicht gewartet, nicht lange genug. Ich hatte zu wenig Geduld.«
Ihre Tränen versiegten.
»Das ist nicht wahr«, sagte er heiser. »Du kannst nichts dafür. Mein Onkel hat deinen Brief versteckt. Sonst wäre ich viel eher zu dir gekommen … Aber Elisa, das ist so lange her. Das zählt jetzt nicht mehr. Jetzt hast du Lukas.«
»Ricardo war mein Sohn … viel mehr als seiner. Meine beiden großen – das sind Steiner-Kinder, so wie Fritz oder Lukas. Tüchtig, zäh, wortkarg und ein wenig unnahbar. Aber Ricardo … Ricardo war so sanft, so bedürftig, manchmal ein wenig verloren. Es war so leicht, ihn zu lieben. Manchmal habe ich ihn angeschaut und mir vorgestellt, dass er dein Kind wäre.«
»Daran darfst du nicht einmal denken«, rief er. »Lukas …«
»Lukas ist ein guter Mann«, fiel sie ihm mit rauher Stimme ins Wort, »ein anständiger, fleißiger Mann. Er war immer der stillste unter seinen Brüdern – und der, mit dem man es am besten aushält. Ja, er ist ein guter Mann. Aber ich liebe ihn nicht. Ich habe ihn nie geliebt. Ich habe …«
»Bitte!« Er klang nun flehentlich. »Bitte! Sprich es nicht aus!«
Sie tat es nicht – aber schweigen konnte sie auch nicht. Etwas anderes brach aus ihr heraus. »Ich habe Lukas geheiratet, um Annelie auszustechen. Um meinem Vater zu beweisen, dass ich willens und fähig bin, kräftige Söhne zu gebären. Annelie hat versagt, aber ich, ich konnte ihm Enkelkinder schenken, nicht nur eines, gleich drei hintereinander, und das vermeintlich ohne Mühen. Immer stand ich sofort wieder auf dem Feld und arbeitete hart wie zuvor.«
»Elisa, du hast allen Grund, auf das stolz zu sein, was du hier geleistet hast – und natürlich auch
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