Im Land der Feuerblume: Roman
instinktiv, war er weniger über die Unzuverlässigkeit der Brüder verärgert als vielmehr über die Tatsache, dass ihm seine Mutter noch nie diese verantwortungsvolle Aufgabe zugewiesen hatte.
Wenn sie eines ihrer Rinder schlachteten, wurde das Fleisch in Stücke geschnitten und an der freien Luft getrocknet – meist auf Platten aus Bambusrohren, die man auf den Dächern auslegte. Später wurde es dann fest eingerollt in lederne Säcke gesteckt und diese zentnerschwere Last in die größeren Orte am See gebracht.
Manuel wusste nicht nur alles über die Rinderzucht, sondern stets auch den aktuellen Fleischpreis – immer weiter stieg dieser an, was bedeutete, dass die Viehzucht ihnen ungleich mehr Wohlstand brachte als jemals der Getreideanbau. Doch so aufgeschlossen und neugierig Manuel sich auch zeigte: Immer schickte die Mutter die älteren Brüder das Fleisch verkaufen, niemals ihn.
Dies war, wie Emilia wusste, nicht das einzige Ärgernis. Wäre es nach Manuel gegangen, so hätte man auf dem Hof der von Grabergs noch viel mehr Tiere gehalten – so wie es die meisten Zillertaler taten, die Bruggers und Hecheleitners, die Krölls und Schönherrs. Doch seine Mutter, deren Wort ungeschriebenes Gesetz war, beharrte darauf, dass sie nicht mehr Tiere hielten als unbedingt nötig.
Einmal hatte Emilia einen Streit der beiden belauscht. »Aber so werden wir niemals reich!«, hatte Manuel wütend gerufen, und Elisa Steiner, geborene von Graberg, hatte entschlossen erwidert: »Wir müssen auch nicht reich werden. Dass wir genug Land und genug zu essen haben und Medizin aus der Apotheke kaufen können, wenn wir krank sind – das ist das Einzige, was zählt.«
Emilia war stets ein wenig bestürzt, wenn Manuel seinem Ärger über die strenge Mutter Luft machte – und immer auch ein wenig gerührt, weil er nur ihr gegenüber so offen seine wahren Gefühle zeigte, niemals aber vor Jacobo oder Poldis Mädchen.
Sie beugte sich etwas vor, weil sie erneut Schritte hörte. Sie klangen viel zu eilig, um Jacobo anzukündigen, und schließlich sahen sie, dass nicht er es war, der den Mädchen folgte, sondern chilenische Arbeiter. Sämtliche Seebauern hatten mittlerweile welche eingestellt, und waren diese auch froh über das regelmäßige Einkommen, so zeigten sie sich oft fassungslos darüber, wie das Rind gehalten wurde. Weder die Einlagerung von Futter für den Winter war den Chilenen bekannt noch das Errichten von Ställen.
»Wo Jacobo nur bleibt?«, fragte Emilia unschuldig.
»Wahrscheinlich ist er beim Kaiblziagn«, antwortete Manuel trocken.
Wieder kicherte Emilia laut. Diese Geschichte sorgte nun schon seit Wochen für großes Gelächter: Bei jeder Familie, die Tiere hielt, hing der Kaiblstrick am Türstock, um damit jederzeit in den Stall eilen und einer trächtigen Kuh beim Gebären helfen zu können. Christl Steiner hatte es immer irgendwie zu verhindern gewusst, dass sich Jacobo dabei die Hände schmutzig machte, doch eines Tages wollte er sich unbedingt auch in dieser Sache beweisen. Anstatt jedoch das Kalb aus dem Leib der Kuh zu ziehen, hatte er so ungeschickt am Strick gezerrt, dass dieser gerissen und er der Länge nach in die Kuhscheiße gefallen war.
Christine, die sich ansonsten jedes schlechte Wort über ihren Enkelsohn verkniff, hatte daraufhin düster zu Christl gesagt: »Der braucht einmal eine tüchtige Frau, wenn er durchkommen will.«
»Mit einer von Poldis Töchtern würd’s schnurstracks ins Verderben gehen«, hatte Jule eingeworfen. »Die sind lieber auf dem Tanzboden als im Kuhstall.«
»Glaubst du etwa, dass eine von Poldis Töchtern meinen Jungen kriegt?«, hatte Christl sie angekeift.
»So oder so«, meinte Christine, »die Jungen haben es heute so viel leichter als seinerzeit wir.«
Emilia verdrehte die Augen, als sie an diese Worte dachte. Ständig wurde ihnen das vorgehalten: dass sie wie die Maden im Speck leben würden und den Hunger der Anfangszeit niemals kennengelernt hätten. Dass sie sich die Ödnis bei ihrer Ankunft gar nicht vorstellen könnten angesichts des Paradieses, das ihre Eltern und Großeltern geschaffen hatten. Selbst die gutmütige Annelie, die lieber für die Kinder kochte, als sie streng zu erziehen, wurde nicht müde, ihren üblichen Spruch zu wiederholen: »Wir hatten den Tod, dann kam die Not – und ihr bekommt nun das Brot.«
Immer klang es ein bisschen so, als würde man es ihnen nicht gönnen – zumindest nicht von Herzen. Das hieß, Christl
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