Im Land der Feuerblume: Roman
Neugeborenen und noch viel mehr vor der Unschuld, die es ausströmte. Es wusste nichts, rein gar nichts. Nichts von der Sünde seines leiblichen Vaters. Nichts von seiner Liebe zu Elisa. Nichts von seiner Zerrissenheit, weil er sich für Greta verantwortlich fühlte und zugleich mit seinem Geschick haderte. Es war einfach da und musste beschützt, umsorgt, geliebt werden.
Greta richtete sich auf, blickte jedoch immer noch nicht auf die Tochter. Sie gab seinem Willen nach, ohne von ihrem abzulassen. »Emma Cornelia«, murmelte sie.
Er widersprach nicht. »Emma Cornelia«, wiederholte er, streichelte über das Köpfchen und fühlte das erste Mal seit Monaten tiefen Frieden mit sich, mit der Welt, vor allem mit diesem Geschöpf. »Ich werde sie Emilia rufen.«
Erst viel später ging ihm auf, dass ihr Name dem von Elisa glich. Doch schon in diesem Moment wusste er, dass er all die Liebe, die er in seinem Herzen trug und die Elisa nicht haben wollte, künftig dem Kind schenken würde – vielleicht nicht seiner leiblichen, aber ganz und gar seiner Herzenstochter.
VIERTES BUCH
Tod, Not, Brot
1880
35. KAPITEL
H ier bin ich! Hier!«
Einen kurzen Moment lang wusste Emilia nicht, woher die Stimme kam. Doch als Gekicher folgte, hob sie den Kopf und sah Manuel auf einem der Bäume sitzen. Sie erwiderte sein Lachen.
»Was machst du denn da oben?«, fragte sie und legte den Kopf in den Nacken.
»Vielleicht die schöne Aussicht genießen?«, schlug er spöttisch vor.
Wieder lachte sie so heftig, dass ihr beinahe eine Fliege in den weit geöffneten Mund geriet. Wild schlug sie um sich, um das lästige Getier zu vertreiben. Im Spätsommer wurden sie regelmäßig zur Qual – die »Colihuachos«, die die deutschen Siedler Pferdefliegen nannten, obwohl sie nicht von Pferden, sondern von Rindern angezogen wurden.
»Ich will zusehen, ob Jacobo es auch allein schafft«, rief Manuel ihr zu.
»Du bist gemein!«, schalt Emilia ihn gutmütig, um alsbald selbst wendig hochzuklettern. Früher hatte sie Angst vor hohen Bäumen gehabt. Doch Manuel hatte ihr gezeigt, wie man sicher von Ast zu Ast stieg, und sie wollte ihm an Geschicklichkeit, Kraft und Mut in nichts nachstehen. Tatsächlich hatte man von dem Baum eine gute Aussicht, und sie war froh, eine kurze Pause einlegen zu können.
Der Tag, an dem das Vieh zusammengetrieben wurde, war stets besonders anstrengend. Jedes Jahr erfolgte dieselbe Prozedur: Im Sommer liefen die Kühe frei herum; im Herbst wurden sie in die Ställe gebracht. In den ersten Jahren war es fast ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, die großen Herden zusammenzuhalten. Kein Chilene war vor ihnen auf die Idee gekommen, so viele Rinder gleichzeitig einzusperren. Ohne eigens dafür abgerichtete Hunde wäre es ein zweckloses Unterfangen gewesen, und selbst die Hunde kamen den Rindern nicht anders bei, als dass sie sich die Kälber schnappten. Mit lautem Brüllen lockten diese die Muttertiere an, und war das Kalb erst mal mit dem Lasso eingefangen, blieb die Mutter bei ihm.
Emilia ließ sich auf den Ast neben Manuel nieder. Kurz knarrte er bedrohlich, aber das Holz war hart genug, um ihrem Gewicht standzuhalten.
»Du bist gemein!«, schimpfte sie abermals. »Immer machst du dich über den armen Jacobo lustig!«
»Warum wohl?«, erwiderte er mit einem verschwörerischen Grinsen. »Ich habe immerhin schon vier Kälber eingefangen! Jacobo bis jetzt noch kein einziges!«
Emilia kicherte. Manuel gehörte nicht zu den fleißigsten Jungen, sonst würde er nicht auf dem Baum sitzen, während das Vieh eingetrieben wurde. Doch im Vergleich mit einem faulen Tollpatsch – wirklich jeder nannte Christl Steiners Sohn so, nur Christl nicht –, war es leicht, sich als Held zu fühlen. Auch Emilia konnte davon ablenken, dass es für sie selbst viel Schöneres gab als die Arbeit, indem sie auf die noch trägeren Töchter von Poldi verwies.
Diese jammerten nun schon den ganzen Tag über die Arbeit, die ihnen aufgebürdet worden war: Sie sollten beim Viehtrieb helfen und Quila ernten, womit man das Vieh später über den grasarmen Winter brachte. Außerdem sollten sie die Melkschuppen kehren, jene Bretterverschläge aus nur drei Wänden – eine Seite stand weit offen –, deren Dach die Rinder vor dem Nordwind schützte.
Gerade erst hatten sie Emilias Hilfe eingefordert, doch die dachte gar nicht daran, ihr gemütliches Plätzchen auf dem Baum wieder zu verlassen.
»Jacobo ist heute fast von Rosetta getreten
Weitere Kostenlose Bücher