Im Land der Feuerblume: Roman
ist sehr mühselig, diese Wurzeln aus der Erde zu ziehen. Die Rinde gewinnt man viel leichter. Auch die Rinde vom Ulmo-Baum wäre geeignet – aber eben nicht so gut wie die der Lingue. Ich habe zufällig herausgefunden, dass hier viele dieser Bäume wachsen.«
Emilia drehte sich im Kreis. Sie wusste, dass es riesige Bäume gab und ganz winzige, solche mit Blättern und solche mit Nadeln – aber dass sich ihre Rinden unterschieden, darauf hatte sie nie geachtet. Kurz war sie ärgerlich, weil Manuel ein Geheimnis vor ihr hatte, doch schließlich überwog ihr Interesse.
»Wie hast du diesen Ort nur gefunden?«, fragte sie. Die Lichtung war ihr zwar nicht ganz so unheimlich wie der dichte Wald, dennoch war ihr kalt, und sie sehnte sich nach dem Sonnenlicht zurück.
»Ich bin als Kind schon oft hierhergekommen. Wenn ich … wenn ich einmal allein sein wollte. Mutter hat erzählt, dass mein Vater auch gern allein war. Offenbar war er sehr still und hat kaum geredet. Nun, die Rinde aber, die ich …«
Emilia blickte ihn stirnrunzelnd an. Sie kannte Manuel in- und auswendig, und dass er die Einsamkeit suchte, war ihr neu. Wahrscheinlich übertrieb er, dachte sie, und es war nur ein, zwei Mal geschehen, dass er vor den Hänseleien der Älteren hierher geflohen war. Noch mehr freilich erstaunte sie, dass er seinen Vater erwähnte. Christine Steiner erklärte oft, dass sie täglich für den verstorbenen Lukas betete. Die anderen sprachen jedoch kaum von ihm, weder Manuels Mutter Elisa noch sein Onkel Poldi oder Manuel selbst.
»Die Rinde kann man …«
»Hat deine Mutter dir viel erzählt?«, unterbrach sie ihn.
»Von der Rinde?«
»Nein, du Dummkopf! Von deinem Vater!«
Er zuckte mit den Schultern. »Alles, was ich von ihm weiß, weiß ich von Großmutter Christine. Wobei diese noch häufiger von meinem Onkel Fritz spricht als von meinem Vater.«
»Ist dein Onkel auch gestorben?«
»Nein, er hat hier eine Weile gelebt, aber er ist schon vor langer Zeit weggegangen. Oh, ich kann’s ihm so gut nachfühlen! Ich würde auch so gerne …«
Emilia hörte ihm gar nicht mehr richtig zu. Gedankenverloren setzte sie sich auf den entrindeten Baumstamm. »Wenn ich keinen Vater hätte, würde ich es bei meiner Mutter niemals aushalten«, murmelte sie. »Sie wird immer merkwürdiger. Hab ich dir schon erzählt, dass sie gestern … ach, das ist nicht so wichtig! Eigentlich will ich gar nicht darüber nachdenken. Mein Vater sagt immer, dass ich Rücksicht auf sie nehmen muss. Sie sei nur so seltsam geworden, weil sie ihre ganze Familie verloren hat. Zuerst ihre Mutter, dann ihren Vater, schließlich ihren Bruder. Für sie hat es sich einfach nicht gelohnt.«
»Was?«, fragte Manuel und setzte sich zu ihr.
»Nun, nach Chile zu gehen«, erklärte sie. Sie zögerte kurz, denn sie war sich nicht sicher, ob sie fortfahren sollte, aber nun, da er ihr sein Geheimnis anvertraut hatte, sprach sie erstmals ihre verborgenen Gedanken aus. »Weißt du, ich würde so gerne nach Deutschland zurückkehren«, sagte sie sehnsuchtsvoll. »Die Nichte von Barbara Glöckner bekommt regelmäßig Briefe von der Verwandtschaft. Und beim letzten Mal hat irgendeine Cousine ihr ein Bild von Kaiser Wilhelm geschickt. Sie hat geschrieben, dass dieser ein großartiger Mann sei, und er trägt einen ganz merkwürdigen Bart, der …«
»Wie?«, unterbrach Manuel sie ungeduldig. »Dein größter Wunsch ist es, nach Deutschland zu gehen? Ich dachte immer, dein größer Wunsch wäre …«
Er brach ab. Emilia sah, wie sich seine Wangen röteten, als er kaum merklich näher rutschte. Seine Oberschenkel waren nun ganz dicht an ihre gepresst.
»Ja?«, fragte sie rauh.
Er grinste, wurde ernst. Dann schnellte plötzlich sein Kopf vor, und er küsste sie mitten auf den Mund. Emilia zuckte zurück. Er hatte sie schon manches Mal geküsst, aber immer nur auf die Wangen oder auf die Nasenspitze, nie auf ihre Lippen.
»Das«, sagte er leise. »Ich dachte immer, das wäre dein größter Wunsch.«
Sie erschauderte, nicht länger vor Kälte, sondern vor dem sonderlichen Prickeln, das sich in ihrem Körper ausbreitete. Sie fühlte, wie ihr glühende Röte ins Gesicht schoss – umso mehr, als er sich ein zweites Mal vorbeugte, diesmal ganz langsam, und sie abermals küsste. Eigentlich küsste er sie nicht, sondern presste seine Lippen einfach nur auf ihre, um eine Weile so zu verharren. Doch allein das war mehr Vertraulichkeit, als einzufordern er jemals
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