Im Land der Feuerblume: Roman
Gesicht verschwunden, aber in seinen Augen schien sich der Glanz der Küste zu spiegeln.
Elisa drückte seine Hand; jenes flaue Gefühl, das sie so oft überkam, wenn sie ihn sah und er lächelte, überkam sie auch jetzt, doch diesmal flatterte es nicht unangenehm in ihrem Bauch, sondern verwandelte sich rasch in wohlige Wärme. Sie hatte das Gefühl, stundenlang so stehen zu können, sich ihm vertraut und nah zu fühlen, ganz ohne weitere Worte. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich nicht mehr so glücklich und so geborgen gefühlt.
Immer wieder sahen sie im Laufe des Tages die englische Küste – gegen Abend lag die Insel Wight mit ihren steilen Klippen in ganzer Länge vor ihnen. Wieder gab es am Abend frischen Fisch zu essen – englischen Fischern abgekauft, die mit ihren Booten zur Hermann III. segelten.
Am nächsten Tag stand der Wind so günstig wie noch nie. Das Schiff nahm an Tempo zu, lief zehn bis zwölf deutsche Meilen in vier Stunden und ließ rasch den Kanal hinter sich. Kein Land war nun mehr zu sehen, und auf dem offenen Ozean erwartete sie eine unruhige See.
Selbst jene Passagiere, die bislang von der Seekrankheit verschont geblieben waren, kämpften nun mit Übelkeit.
Elisa musste sich zwar nicht erbrechen, konnte jedoch nicht einmal ans Essen denken; mehrere Stunden blieb sie mit flauem Gefühl im Magen in der Koje liegen – bis sie in der Kajüte schließlich zu ersticken glaubte. Kaum war sie an Deck gewankt, schnappte sie nach frischer Luft wie eine Ertrinkende. Die Übelkeit ließ etwas nach, doch aus dem Druck auf den Schläfen wurden Kopfschmerzen. Schaudernd blickte sie auf die dunklen Fluten, die sie umgaben. Weiß spritzte die Gischt hoch, wo der Bug des Schiffs das schwarze Wasser zerriss. Zum ersten Mal machte ihr das weite Meer Angst, gab ihr das Gefühl, ganz allein auf dieser Welt und einem wankelmütigen Schicksal ausgeliefert zu sein, das ihnen an einem Tag eine glatte, liebliche See schenken konnte, am anderen aber grauenhafte Stürme, aus denen sie womöglich nicht lebend hervorgehen würden.
Suchend blickte sie sich nach Cornelius um, doch er kam heute nicht an Deck; wahrscheinlich musste er dem leidenden Onkel beistehen.
Nur Poldi leistete ihr für kurze Zeit Gesellschaft. Obwohl auch er ziemlich grün im Gesicht war, erzählte er ihr sensationslüstern das Neueste. Jemand hätte sich im Zwischendeck erbrochen, und weil ausgerechnet in diesem Augenblick das Schiff in Schräglage geraten sei, sei das Erbrochene durch den Raum geschaukelt wie ein Pfannkuchen.
Nur mühsam rang Elisa sich ein Lächeln ab.
Fritz, der dem jüngeren Bruder gefolgt war, entging das nicht. »Lass Elisa ihn Ruhe!«, mäßigte er Poldi. »Und außerdem: Mutter möchte nicht, dass du bei dieser unruhigen See an Deck bist. Du sollst wieder runterkommen.«
Eine Weile zögerte Poldi es hinaus, dann fügte er sich widerstrebend.
Der Nieselregen, der bald darauf einsetzte, trieb auch Elisa wieder hinein. Von dem unruhigen Schaukeln wurde sie im Gang hin und her geworfen.
»Geben Sie acht, Fräulein!«, rief ihr der schrankförmige Steward lächelnd zu; die stürmische See machte ihm nichts aus, im Gegenteil, er schien geradezu aufzublühen.
Endlich hatte sie ihre Kabine erreicht. Sie wartete einen Moment ab, bis das Schiff halbwegs ruhig über das Wasser glitt, dann riss sie die Tür auf.
»Es hat zu regnen begonnen und …«, setzte sie zu berichten an, brach jedoch unvermittelt ab. Sie riss die Augen auf, erstarrte. Die Übelkeit, die wieder in ihr hochgestiegen war, schwand augenblicklich. Etwas anderes ballte sich in ihrem Magen zusammen – Verwunderung, Erschrecken zunächst, dann Zorn und Eifersucht.
»Nein!«, stammelte sie.
Richard war herumgefahren, aber ihn bemerkte sie gar nicht. Ihr Blick war starr auf Annelie gerichtet. Bis jetzt hatte diese stets sämtliche Kleider getragen. Nun war sie offenbar dabei, ihre Wäsche zu wechseln. Nur ein Mieder trug sie – und durch dieses zeichnete sich das runde Bäuchlein ganz deutlich ab.
»Nein!«
Diesmal schrie Elisa es nicht, sondern hauchte es nur.
Annelie war schwanger.
Eine Weile starrte sie sie nur schweigend an. Dann wich Elisa zurück und flüchtete aus dem engen Raum.
»Elisa!«
Sie war bereits die Hälfte des Ganges entlanggelaufen, als der Vater ihr nachgeeilt kam. Kurz dachte sie daran, ihn einfach zu missachten und weiterzulaufen, doch dann keimte Hoffnung auf klärende Worte auf, eine Hoffnung wider besseres
Weitere Kostenlose Bücher