Im Land der Feuerblume: Roman
Tür und hastete mit ihm aufs Deck. Die frische Morgenluft, die sie traf, machte sie rasch richtig wach. Der Zopf, den sie unter der Nachthaube getragen hatte, löste sich auf, und die Strähnen tanzten ihr in das Gesicht.
»Schau nur!«, rief er, als sie die Reling erreicht hatten, und deutete Richtung Norden.
Elisa stand und starrte. »Wie schön!«, entfuhr es ihr ehrfürchtig.
Gestern Abend hatten sie den Kanal passiert: Zunächst waren sie nahe genug an Frankreich vorbeigekommen, um in der Ferne das Lichtermeer von Calais und dessen berühmte Türme sehen zu können. Danach dauerte es nicht lange, bis sich rechts die englische Küste zeigte und die beiden Leuchttürme von Dover sichtbar wurden. Ausführlich hatte der Steward beim Abendessen davon berichtet, dass dies der Lieblingsort von Königin Victoria sei.
Später war es zu finster gewesen, um mehr von England zu sehen, nun aber trat aus dem Morgennebel eine schroffe Küstenlandschaft hervor, strahlend weiß und derart funkelnd, dass es in den Augen schmerzte.
»Wie schön!«, rief Elisa wieder. »Es hat geschneit!« Prüfend hob sie ihre Nase; die Morgenbrise war zwar frisch, aber nicht beißend. »Merkwürdig! Es ist doch gar nicht kalt genug für Schnee.«
Cornelius lächelte. »Das ist auch kein Schnee, das ist Kreide. Deswegen heißt die Küste Kreideküste.«
Elisas Wangen wurden glühend rot vor Scham über ihre Unwissenheit. Argwöhnisch drehte sie sich um, um zu sehen, ob noch jemand ihren peinlichen Irrtum vernommen hatte, doch das Deck war ziemlich leer. Einige Männer waren damit beschäftigt, es zu kehren und Taue einzuziehen. Sie gehörten nicht zur Schiffsmannschaft, sondern waren Passagiere, die nicht genügend Geld für die Überfahrt hatten und sie sich mit Aushilfsarbeiten verdienten. Nicht weit von ihnen lagen dick in Decken vermummt ein paar junge Frauen – Mägde, die in der Küche arbeiteten und die lieber im Freien froren, als die üblen Gerüche im Orlopdeck, wo sie untergebracht waren, hinzunehmen.
»Wenn ich es nicht anders gelesen hätte, ich hätte es auch für Schnee gehalten!«, sagte Cornelius schnell. »Und was glaubst du, was mein Onkel bei diesem Augenblick ausgerufen hätte? Wahrscheinlich hätte er die Hände über den Kopf zusammengeschlagen und laut über schlimme Schneestürme geklagt, die nun zu befürchten seien, oder über riesige Eisberge, die alsbald vor uns aufragen und das Schiff aufschlitzen.«
Sie wusste nicht, ob er das nur sagte, um ihre Verlegenheit zu mindern, oder ob er es ernst meinte, aber sie fühlte sich befreit genug, um aufzulachen.
Nicht lange, und er stimmte in ihr Lachen ein, für eine kurze Weile zumindest, dann presste er abrupt die Lippen aufeinander.
»Ich habe lange nicht mehr gelacht.« Er klang nun nicht mehr belustigt, sondern traurig.
Sie wandte sich zu ihm, während sie ihre Haare zu bändigen versuchte, und betrachtete sein Gesicht. Wie bei ihrer ersten Begegnung fielen ihr die Ebenmäßigkeit und die Feinheit seiner Züge auf, vor allem der warme Blick seiner braunen Augen, der zugleich irgendwie erloschen wirkte.
»Warum nicht?«, fragte sie.
Er zögerte, schien damit zu ringen, es ihr anzuvertrauen. »Ich habe einen Freund verloren«, brach es schließlich aus ihm hervor. »Einen guten Freund – er hieß Matthias. Er ist viel zu früh gestorben, und viel zu grausam …« Er schüttelte den Kopf, als könne er auf diese Weise die schmerzvollen Erinnerungen loswerden, die in ihm hochstiegen. »Und es gab so vieles, was ich tun wollte, aber nicht tun konnte, weil ich …«
Er brach ab, senkte rasch seinen Blick. Es lag ihr auf der Zunge, nachzubohren und Sinn in die wirren Andeutungen zu bringen. Doch sie verkniff es sich, ihn zu bedrängen. Wenn sie sich erst länger kannten, dann würde er sich ihr noch anvertrauen – und hier auf dem Schiff würden sie für lange Zeit auf engstem Raum zusammenleben. Sie blickte wieder auf die Kreideküste. Der Morgennebel hatte sich gelichtet; noch schroffer, noch hoheitsvoller hoben sich die weißen Klippen vom dunklen Meer und dem blauen Himmel ab. Die Kreide glitzerte, als hätte man Juwelen über der Küste verstreut. Schwarze Vögel flogen durch die klare Luft. Der Anblick war so schön, so unglaublich schön, dass er beinahe weh tat. Cornelius schien Ähnliches zu fühlen. Er sagte nun nichts mehr, ergriff nur schweigend ihre Hand, so wie an dem Tag der Abreise. Der melancholische Ausdruck war nicht ganz von seinem
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