Im Land der Feuerblume: Roman
diese verfluchte Reise überhaupt antreten müssen! Als er den Namen aussprach, setzte er eine Grimasse auf, als habe er ein Stück vergiftetes Essen zu sich genommen.
Greta spürte, wie ihre Mutter zusammenzuckte. Nie sprach Lambert Mielhahn von seinem Bruder Gustav, ohne dass er unendlich zornig war. Nun, eigentlich war er immer zornig; Hader, Neid und Verbitterung saßen stets auf seinen Schultern. Aber wenn es um Gustav ging, so verlangten diese Gefühle augenblicklich nach einem Opfer, auf das er sie abladen konnte.
Greta spürte ihre Mutter nicht nur zusammenzucken, sondern auch unmerklich von ihr abrücken. Wenn es galt, die kalte Wut von Mann und Vater zu erdulden, kämpfte jeder in der Familie für sich allein. Nie hatte sich Emma Mielhahn schützend vor Greta oder ihren Bruder Viktor gestellt. Und umgekehrt wussten sich die Kinder immer schnell zu verstecken, wenn es die Mutter traf.
Greta blickte sich unauffällig im Zwischendeck um. Ihr Vater würde sich nicht gehen lassen, wenn er sich beobachtet fühlte, doch er war nicht der Einzige, der heute an Seekrankheit litt. Die meisten wanden sich stöhnend auf ihren Kojen, vom eigenen Elend zu sehr gefangen, um das eines anderen auch nur zu bemerken. Die sonderliche Juliane Eiderstett war zwar nicht grün im Gesicht und hatte mit gutem Appetit ihr Frühstück verspeist, doch nun las sie konzentriert in ihrem Buch, und Greta hatte keine große Hoffnung, dass sie die Lektüre unterbrechen würde, falls ihr Vater zu toben begänne. Frau Eiderstett hatte am ersten Tag auf dem Schiff zwar dem Vater getrotzt – aber damals war es immerhin um die Koje, folglich um ihre eigene Angelegenheit gegangen.
»Alles nur seinetwegen!«, schrie Lambert auf. »Alles nur seinetwegen!«
Greta blickte starr auf ihre Hände. Diese Worte hatte sie oft gehört, aber sie hatte lange gebraucht, um zu verstehen, womit der Onkel ihren Vater so erzürnt hatte. Offenbar ging es um den Landbesitz des Großvaters, zu dem nicht nur ein prächtiges Anwesen gehörte, sondern viele Wälder. Gustav war der Erbe, der »Alleinerbe«, wie Lambert ihn oft bitter titulierte, und sein spitzer Tonfall ließ keinen Zweifel offen, dass er ihn nicht für den rechtmäßigen hielt. Greta konnte sich kaum an das Gesicht ihres Onkels Gustav erinnern und noch weniger an das ihres Großvaters. Seit dessen Ableben und der ungerechten Verteilung seiner Besitztümer waren viele Jahre vergangen, doch Lamberts Wut über seine Zurückweisung vergällte unvermindert ihrer aller Leben. Wenn man ihn reden hörte, so konnte man meinen, er würde erst seit gestern darüber grollen, dass sein Bruder alles bekam, er hingegen in Armut leben musste – solch schlimmer Armut, dass er schließlich gezwungen war, seine Heimat zu verlassen.
Plötzlich ertönten trippelnde Schritte. Sie kamen nur zaghaft näher und führten doch unweigerlich zu ihrer Koje.
Nicht jetzt, versuchte Greta, ihren Bruder zu beschwören. Bitte nicht jetzt! Bleib fern!
Doch sie sagte es nicht laut – und Viktor reagierte nicht auf ihren stummen Befehl. Emma rückte noch weiter von Greta weg; sie hockte nun am Kopfende des Betts.
Warum hatte sie nicht besser auf Viktor aufgepasst? Warum hatte er sich überhaupt von ihrer Koje entfernt?, dachte Greta still. In ihrem Gesicht regte sich nichts, als sie mit aufgerissenen Augen auf Viktor starrte.
Und dann war es schon zu spät.
»Wo bist du gewesen?«, fauchte Lambert Viktor an.
Sag nichts!, dachte Greta.
»Bei den Steiner-Mädchen«, brach es aus Viktor hervor.
Dummkopf!, schimpfte Greta still. Weißt du nicht, was du anrichtest?
Manchmal konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass Viktor das alles mit Absicht tat, dass er wider besseres Wissen des Vaters Zorn heraufbeschwor und somit auch die Schläge, um wenigstens einen Funken Trotz zu wahren.
Sie hörte Emma schnaufen, aber ansonsten gab die Mutter keinen Ton von sich.
»Bei den Steiner-Mädchen, soso …« Der Vater erhob sich. »Und wie oft habe ich dir gesagt, dass wir mit dieser Brut nichts zu tun haben? Bist du etwa selbst ein Mädchen, weil du mit Mädchen spielst?«
Greta blickte sich erneut hilfesuchend um, aber wie befürchtet nahm niemand sie wahr. Frau Eiderstett las weiterhin seelenruhig in ihrem Buch.
Lauf weg, lauf weg! Versteck dich irgendwo! Vielleicht vergisst er es …
Doch inzwischen hatte der Vater Viktor gepackt. Greta schloss die Augen.
Trotz ihrer Furcht um den Bruder war sie irgendwie auch
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