Im Land der Feuerblume: Roman
eingestehen wollte.
»Was heißt ›gleich‹? Das verspricht man uns nun schon den ganzen Tag! Aber wer weiß, wie lange wir noch warten müssen.«
Sein Blick fiel auf die junge Frau, kaum älter als Elisa, die schwerfällig und mit gebeugtem Rücken auf einer der Kisten mit ihrem Gepäck hockte. Auch sie hatte dem flüchtenden Jungen keine Beachtung geschenkt und erwiderte nun auch Richards Blick nicht.
Wie eine welke Blume, ging es Elisa durch den Kopf.
»Vielleicht … vielleicht kannst du Annelie etwas Wasser bringen?«, schlug der Vater zögernd vor.
Elisa unterdrückte mit großer Mühe einen empörten Aufschrei. Warum musste der Vater sie ständig an diese ungeliebte Begleitung erinnern?
Annelie.
Geborene Drechsler. Seit kurzem Annelie von Graberg, Richards zweite Ehefrau, die er drei Monate vor ihrer Abreise aus Niederwalzen, einem kleinen Dorf zwischen Frankfurt und Kassel, geheiratet hatte – sehr überstürzt, wie alle, vor allem seine Tochter, fanden. Er hatte nicht einmal das Trauerjahr eingehalten.
Elisa kniff die Lippen zusammen.
Nicht sie sollte hier sein. Nicht Annelie.
Nicht mit ihr hatte sie sämtlichen Besitz zusammenpacken und alles verschenken wollen, was sie auf der Reise nicht mitnehmen konnten – eine Reise, die lange, kräftezehrend und gefährlich sein würde –, darunter die vielen Spitzendecken, die ihre Großmutter geklöppelt hatte und die zu Lebzeiten deren ganzer Stolz gewesen waren. Nicht mit ihr hatte sie schließlich eines frühen Morgens aufbrechen wollen, als das Gras noch taunass und der Frühlingshimmel noch diesig gewesen war. Den ersten Teil der Wegstrecke hatten sie auf einem Stellwagen zurückgelegt; dann war es mit der Dampfeisenbahn weitergegangen, ein grollendes, spuckendes, zischendes Ungeheuer, das Elisa ebenso Angst machte, wie es sie faszinierte.
Es war ein spannendes Abenteuer – wenn es nicht Annelie gewesen wäre, mit der sie schließlich spätabends Hamburg erreichten. Von Mücken umsurrte Laternen beleuchteten den Weg vom Berliner Bahnhof am Deichtor zu ihrer Unterkunft in der Admiralitätsstraße. Zuvor hatten Polizisten sie in Empfang genommen, die den Bahnhof überwachten und dafür Sorge zu tragen hatten, dass die Auswanderer nicht in die Hände jener Betrüger fielen, die manch einem von ihnen mit leeren Versprechungen den ganzen Besitz abschwatzten. Die Polizisten waren es auch, die die Aufenthaltsgenehmigung und die Einschiffungserlaubnis ausstellten. Stundenlang hatten sie sich anstellen müssen, ehe sie spät in der Nacht in ihrem Logierhaus angelangt waren. Es bestand aus unverputzten Bretterwänden und knirschenden Holzdecken und versprach die Stabilität eines Kartenhauses. Obendrein hatten sie kein freies Bett mehr bekommen, sondern mit durchgelegenen Matratzen vorliebnehmen müssen. Ein riesiger Laib Schinken, den einer der anderen Gäste an seinem Bettende aufgehängt hatte, war dicht über ihrem Kopf gebaumelt. Der salzige Geruch hatte den Hunger in Elisas leerem Magen verstärkt – und war doch deutlich angenehmer als der nach schweißigen Füßen und ungewaschener Kleidung.
Lange war sie wach gelegen und hatte sich vorgestellt, wie anders der Beginn ihrer langen Reise verlaufen wäre, wenn nur ihre Mutter sie dabei begleitet hätte. Wäre diese auch immer sofort erschöpft gewesen wie Annelie? Hätte sie auch ständig geseufzt, anstatt die vielen fremden Eindrücke begierig aufzusaugen, wie Elisa es tat?
Gewiss nicht!, dachte Elisa entschieden. Ihre Mutter war eine forsche, willensstarke Frau gewesen, kein bleiches Geschöpf wie Annelie, das schwer und reglos wie ein Mehlsack dahockte.
Ja, ihre Mutter hätte hier sein sollen. Nicht Annelie.
Immerhin, dachte Elisa widerstrebend, klagte sie bis auf ihr Seufzen meist nicht, so auch jetzt nicht.
»Es ist nicht nötig, dass Elisa Wasser bringt«, erklärte sie rasch auf Richards Aufforderung hin. »Ich … ich halte es aus …«
»Aber sie können uns hier doch nicht verdursten lassen!«, jammerte ihr Vater.
»Also gut«, murmelte Elisa widerwillig und erhob sich – allerdings nicht, um Annelie einen Gefallen zu tun. Vielmehr war ihr eigener Mund auch trocken. »Also gut … ich schaue, was sich machen lässt.«
»Hab Dank«, murmelte Annelie, aber Elisa erwiderte nichts, sondern warf lediglich einen letzten mürrischen Blick auf die junge Stiefmutter zurück.
Warum nur hat Mutter nicht so lange leben dürfen?, fuhr es ihr durch den Kopf.
Mit dieser hatte sie in
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