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Im Land der Feuerblume: Roman

Im Land der Feuerblume: Roman

Titel: Im Land der Feuerblume: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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sie vor lauter Schreck vergessen hatten, sich festzuklammern.
    Wild ging das Gebrüll durcheinander, lauter noch als Knirschen und Windgeheule, als Jule sich plötzlich erhob und durch den Raum schrie: »Hat sich jemand von euch das Genick gebrochen? Falls nein, müsst ihr nicht schreien. Falls ja, ist derjenige zu tot, um schreien zu können. Also sind wir jetzt alle wieder ruhig, ja?«
    Ihre herrischen Worte verfehlten die Wirkung nicht. Tatsächlich klappte mancher Mund verblüfft über ihre Härte zu.
    »Richard«, stammelte Annelie wieder, »Richard soll wissen, was passiert ist. Er soll …«
    »Bei Geburten, ob sie nun schiefgehen oder nicht, sind Männer nicht dabei«, ging Jule dazwischen.
    Elisa sah, wie Christine den Kopf schüttelte: »Siehst du denn nicht, dass sie schreckliche Angst hat?«
    »Willst du ihn etwa holen?«, fragte Jule.
    Ob die beiden bemerkten, dass sie in der Panik zum vertraulichen Du übergegangen waren?
    Elisa erhob sich schnell. »Ich kann das tun«, erklärte sie, erleichtert, dass sie sich anders nützlich machen konnte, als nur Annelies Hand zu halten. Hilflos fühlte sie sich dabei – zumal Jule im Gegensatz zu ihr viel besser zu wissen schien, was zu tun war.
    Annelie nickte schwach, ihre Hand fiel kraftlos auf das Bett. »Ja bitte … Elisa … bitte hol ihn.«
    Elisa wartete Jules Zustimmung nicht ab, sondern tastete sich vorsichtig in Richtung Aufstieg vor, immer darauf bedacht, sich an einem der Bettpfosten festzuhalten.
    Als sie Stufen erreichte, schwappte ihr übler Geruch entgegen. Sie würgte, als sie bemerkte, dass er von Kot und Urin stammte, die ihr von den sechs Aborten entgegenflossen.
    Weit und breit war nichts von dem Matrosen zu sehen, der sie vorhin zurückgehalten hatte, und sie konnte mit dem Aufstieg beginnen.
    Die erste Stufe war glitschig. Nun, da es keine Pfosten mehr zum Festhalten gab, stützte sie sich rechts und links gegen die Wand. Wurde das Schaukeln schlimmer? Oder bildete sie sich das nur ein? Immerhin rutschte sie nicht aus, stieg höher und höher. Doch weder erhaschte sie nun frischere Luft noch mehr Licht, und als sie oben ankam, erkannte sie auch, warum. Jemand hatte die Einstiegsluke zum Zwischendeck geschlossen.
    Verzweifelt hämmerte sie dagegen. »Ist da jemand?«, schrie sie gegen das Heulen des Sturms an. »Aufmachen!«
    Niemand kam zu Hilfe, aber als sie noch fester gegen das Holz trommelte, sah sie, dass sich der Verschlag einige Fingerbreit auftat. Sie musste nur ihr ganzes Gewicht gegen die Luke stemmen – dann konnte sie das Brett vielleicht zur Seite schieben. Sie ächzte und stöhnte, während sie sich abmühte. Holzfasern drangen tief in ihre Haut, Tropfen klatschten in ihr Gesicht, aber sie achtete nicht darauf, und dann war es endlich geschafft. Tief atmete sie die frische, salzige Luft ein, doch sie konnte sie nicht lange genießen. Im nächsten Augenblick rollte eine Welle jenes Wassers heran, das sich im Gang der ersten und zweiten Klasse gesammelt hatte, und klatschte über ihrem Kopf zusammen. Es fühlte sich an, als würde ein kräftiger Mann auf sie einschlagen. Nie hatte sie geahnt, dass die Wucht des Wassers derart schmerzhaft sein konnte. Ihr Kopf brummte, sie glitt zwei Stufen zurück. Regelrechte Sturzbäche fluteten nach unten. Sie kämpfte sich hoch, wuchtete sich in den Gang. Wieder traf eine Welle sie, diesmal hielt sie jedoch rechtzeitig die Luft an. Auch als sie endlich aufrecht stand, schien das Wasser von allen Seiten zu kommen. Wie durch einen Schleier hindurch sah sie Menschen rennen. Die Tür zum Deck stand weit offen – wahrscheinlich hatte der Sturm sie herausgerissen, woraufhin das Wasser ungehindert ins Innere fließen konnte. Später würde sie erfahren, dass zum gleichen Zeitpunkt einer der Matrosen vom mittleren Mastbaum auf die mit Blech beschlagene Kajüte gefallen war und dass der Kapitän den Steuermann an das Steuer festbinden ließ, um das Schiff trotz hoher Wellen zu navigieren. Die Kompasslampe erlosch, und das Großsegel schlug mitsamt dem ganzen Baum in die entgegengesetzte Richtung.
    »Vater!«, schrie sie. In ihren Ohren rauschte es. Das Meerwasser brannte in ihrem Gesicht und auf ihren wunden Händen.
    »Vater!«
    Schon mehrmals hatte sie gespürt, wie ein heftiger Ruck durch das Schiff ging, jetzt war ihr, als würde es tatsächlich kentern. Der Boden wurde ihr unter den Füßen weggerissen. Sie griff ins Leere, wusste nicht mehr, wo oben und unten war, rollte haltlos durch

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