Im Land der Feuerblume: Roman
den Gang, immer weiter auf den Ausgang zum Deck zu. Schon glaubte sie, ins Freie zu fallen, über die Reling geschleudert zu werden, das schwarze Wasser über sich zusammenbrechen zu fühlen.
Plötzlich griffen Hände nach ihr, fingen sie auf. Sie hatte vergessen zu atmen, schnappte nun erst nach Luft. Ihre Kehle fühlte sich wie verätzt an, sie musste das salzige Wasser geschluckt haben.
»Mein Gott, Elisa, wo warst du nur?« Es war die Stimme ihres Vaters, die auf sie einredete, doch es waren nicht seine Hände, die sie aufgefangen hatten. Cornelius hielt sie, hielt sie fest und geborgen. Sie klammerte sich an ihn, fühlte für einen kurzen Augenblick weder Schmerzen noch Kälte, nur tiefe Erleichterung und Wohligkeit.
»Ich habe dich gesucht. Herr Suckow hat mir schließlich geholfen«, rief ihr Vater. »Und Annelie ist auch fort. Weißt du, wo sie ist?«
Sie wollte antworten, brachte jedoch nur ein Krächzen zusammen. Wortlos deutete sie in Richtung Zwischendeck, und ohne weitere Fragen stürmte Richard nach unten. Cornelius ließ sie nicht los, als sie ihm folgten. Mehrmals wurden sie im Gang hin und her geworfen; wahrscheinlich war ihr Körper längst von blauen Flecken übersät, doch sie schafften es, die glitschigen Stufen hinunterzuklettern, ohne sich sämtliche Knochen zu brechen.
Als sie unten ankamen, hatte Elisa das Gefühl, dass das Schiff nicht mehr ganz so stark schaukelte und das Stöhnen des Windes nicht mehr so ohrenbetäubend toste wie vorhin. Hatte der Sturm endlich nachgelassen?
Richard stürzte auf die Koje zu, in der Annelie lag, und schrie ihren Namen. »Was ist passiert? Was, um Gottes willen, ist passiert?«
Elisa sah, dass er Annelies Hand genommen hatte und sie fest drückte. Annelie reagierte kaum; sie schaffte es nicht, den Kopf zu heben, obwohl sie sich sichtlich darum bemühte. Ihre Lippen waren wund gebissen; ihr Gesicht noch bleicher als zuvor.
»Das Kind hat sie verloren, aber sie selbst lebt noch. Ich weiß aber nicht, wie lange«, meinte Jule knapp.
Elisa versagten die Beine. Sie war sicher, dass sie gefallen wäre, hätte Cornelius sie nicht weiterhin festgehalten.
Jule musterte ihn abschätzig. »Wenn ihr es noch einmal nach oben schafft, ohne über das Schiff geschwappt zu werden und zu ersaufen, so wäre jetzt die Gelegenheit, deinen Onkel zu holen. Die Arme hat mehrmals nach einem Pfarrer verlangt. Und für das Seelenheil ist er zuständig – nicht ich.«
Elisa hatte sich nicht geirrt, der Sturm war tatsächlich schwächer geworden. Helles Licht traf sie von oben; der dunkle Himmel schien sich aufzuklären. Das Ächzen und Knirschen des Schiffskörpers, das vorher noch so klang, als würde er gewaltsam auseinandergerissen, war kaum lauter als ein Seufzen.
Dennoch stürzten ihnen immer noch Wassermassen entgegen, als sie hinaufstiegen. Die hölzernen Stufen hatten sich längst damit vollgesogen; und diesmal konnte Elisa es nicht verhindern, auszurutschen und nach hinten zu kippen. Sie wähnte sich fallen, stieß einen Aufschrei aus, doch dann fing Cornelius sie auf. Dicht standen sie aneinandergepresst, länger als eigentlich notwendig. Erst in diesem Augenblick konnte sie wirklich fassen, was geschehen war.
»Es ist meine Schuld, dass Annelie ihr Kind verloren hat«, brach es aus ihr heraus. »Nicht nur, aber auch meine«, berichtigte sie sich.
Eben noch hatte sie sich vor Furcht und Grauen wie erstarrt gefühlt; nun bebten ihr die Beine. Tränen quollen ihr aus den Augen.
»Was redest du nur?«, rief Cornelius entsetzt. »Du hast großartig geholfen, und dass sie eine Totgeburt …«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Insgeheim habe ich mir gewünscht, dass sie verschwindet. Sie und das Kind.«
Er ließ sie nicht los, sondern presste sie fester an sich. Obwohl Jule verlangt hatte, er möge seinen Onkel holen, drängte er nicht zur Eile.
»Manchmal hegt man finstere Gedanken«, sagte er leise. »Gewiss, es wäre so viel leichter zu leben, wäre man von ihnen befreit. Und dennoch: Es sind nur Gedanken. Du hättest deiner Stiefmutter nie willentlich Böses angetan. Und vor allem zählt, dass sie lebt!«
»Aber das Kind …«, immer noch schüttelte sie heftig den Kopf. Ihre Zähne klapperten vor Kälte und Aufregung. »Ich war so zornig, als ich erfahren habe, dass sie guter Hoffnung ist. Mein Vater hat mich zum Schiffsarzt geschickt, und ich habe ihm so böse Worte an den Kopf geworfen. Bitterböse. Und jetzt …«
»Ich weiß, was in dir vorgeht,
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