Im Land der Feuerblume: Roman
Fassungslosigkeit wurde Zorn. »Einfach so? Nimmst es hin? Mit dem Gesicht, das einem Lamm gleicht, das zur Schlachtbank geführt wird?« Der Zorn erwies sich als wankelmütig, ließ nach, ehe er sie ganz und gar in Besitz nehmen konnte, vielleicht, weil er nicht stark genug war, vielleicht, weil sie nicht stark genug war. Sie biss sich auf die Zunge. »Es tut mir leid«, murmelte sie mit erstickter Stimme und wandte sich ab. »Es tut mir so leid. Es steht mir nicht zu, so mit dir zu reden.«
Sie trat einige Schritte von ihm fort, wusste jedoch nicht, wohin sie gehen sollte. Es gab hier nichts, nicht das kleinste Fleckchen vertrauter Erde, auf dem sich sicher stehen und der Verzweiflung standhalten ließ.
Er hastete ihr nach. »Glaub nicht, dass ich ihm nicht zürne. Aber er ist mein Onkel. Der Onkel, der immer für mich da gewesen ist. Der Onkel …«
»Der Onkel, der deine Mutter aufgenommen hat, als sie ein uneheliches Kind erwartet hat«, schloss sie an seiner Stelle.
Nur ein einziges Mal hatten sie darüber gesprochen – damals, als er ihr die Wahrheit über sein Leben anvertraut hatte. Auch jetzt blieb es bei diesen wenigen Worten. Langes Schweigen senkte sich über sie.
»Hör zu«, setzte er schließlich leise an. »Es ist wohl gut und richtig, dass ihr mit Konrad Weber geht. Und ich verspreche dir: Ich werde alles tun, damit wir uns wiedersehen. Vielleicht währt unsere Trennung nur für kurze Zeit. Wenn mein Onkel erst den Schrecken überstanden hat, dann können wir zu euch nachkommen. Und bis dahin … bis dahin schreiben wir uns.«
Er versuchte, seine Stimme mitreißend klingen zu lassen, der Ausdruck seines Gesichts war es nicht.
»Und wie?«, fragte Elisa. »Wir haben nichts zu essen, kein ordentliches Dach über dem Kopf und nur zerfetzte Kleidung. Wie sollen wir …«
»Auch in Chile gibt es Papier; auch in Chile werden Briefe von einem Ort zum anderen gebracht. Du musst einfach nur fest daran glauben und …«
Seine Stimme versagte.
Anstatt zu reden, ihre Zweifel zu beschwichtigen und ihr Mut zu machen, beugte er sich vor und küsste sie, sanft und liebevoll zuerst, dann so heftig und gierig, dass ihr Mund schmerzte. Es machte ihr nichts aus. Mehr als jedes zuversichtliche Wort trösteten sie seine Umarmung, der Druck seiner Lippen und seiner Zunge, sein salziger Geschmack und seine Wärme, aus der schließlich Hitze wurde, als sie sich immer fester an ihn drängte. So viel wie nur irgend möglich wollte sie ihn von sich spüren lassen, jedes Fleckchen ihrer Haut; sie wollte diese letzte Berührung in ihre Seelen einbrennen, auf dass sie sie nie vergäßen. Kaum merkte sie, wie sie den Stoff des Kleides zurückschob, seine Hand nahm, auf dass er ihren nackten Hals berührte, ihn tiefer führte, zum weichen Fleisch ihrer Brüste. Sie spürte die kalte Luft nicht, die sie traf – nicht, solange er sie hielt, solange das Beben seines Körpers auf sie überging, der Hunger nach ihrem Leib. Sie zitterte und glühte zugleich, wusste – so eng wie sie sich umschlangen –, nicht mehr, wo die Grenzen des eigenen Körpers lagen und seiner begann, wusste nur, dass sich sämtliche Ängste und Zweifel betäuben ließen, zumindest für diesen einen gestohlenen Augenblick.
Dann war es vorbei. Sanft schob er sie zurück und zog den Ausschnitt ihres Kleides hoch.
»Daran«, sie hob die Hand, streichelte über seine Stirn, »daran werde ich mich erinnern, an jedem einzelnen Tag, der vor mir liegt. Daran werde ich mich aufrichten, mich damit trösten.«
Er beugte sich vor, doch diesmal küsste er sie nicht auf den Mund, sondern nur auf die Stirn.
»Damals in Hamburg war ich meines Lebens so überdrüssig«, sagte er leise. »Ich wollte meiner Vergangenheit entfliehen, ohne eine Zukunft vor mir zu sehen. An deiner Seite habe ich wieder gespürt, wie reich das Leben sein kann, wie viel es für mich bereithält. Auch daran sollst du dich erinnern, auch daran dich aufrichten: dass ich mein Leben mit dir teilen will. Dass ich mir nichts mehr wünsche, als dass du eines Tages meine Frau wirst.«
Er löste sich von ihr, drückte ein letztes Mal ihre Hand.
»Ich werde auf dich warten«, sagte sie, ehe sie zurück in die Baracke ging.
Am nächsten Morgen folgten die von Grabergs, Mielhahns, Steiners, Juliane Eiderstett und einige andere Familien Konrad Weber ins Ungewisse. Es war ein hastiger Aufbruch, denn sie hatten kaum etwas mitzunehmen. Nicht alle hatten sich entschieden zu folgen, und Elisa
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