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Im Land der Feuerblume: Roman

Im Land der Feuerblume: Roman

Titel: Im Land der Feuerblume: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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sie einfach die Augen, beschwor sein Gesicht herauf, und dann murmelte sie leise etwas vor sich hin. Sie erzählte ihm, was sie erlebt hatte und was ihr schwer auf der Seele lastete, erzählte von ihrem neuen Leben und den Nöten, Enttäuschungen und Ängsten, die es gebracht hatte, erzählte auch von geheimen Hoffnungen und Wünschen. Vor allem erzählte sie ihm, wie sehr sie ihn vermisste, wie sehr sie sich nach ihm verzehrte, nicht nur am Tage, auch in der Nacht, in der ein alter Traum sie verfolgte: Dann ging sie mit ihm durch dunkelsten, dichtesten Wald, umklammerte fest seine Hand und fühlte sich kurz sicher und geborgen – bis plötzlich Nebel aufzog, alles verschluckte und sie ihn nicht länger spüren konnte. Allein war sie dann. Ganz allein in einer wilden, bedrohlichen Welt. Nicht selten erwachte sie mit seinem Namen auf den Lippen und Tränen in den Augen.
    Der Vogel hielt seinen Kopf schief, stieß wieder einen Laut aus, diesmal hoch und melodisch, dann flatterte er plötzlich davon. Das Grün seiner Schwanzfeder verschmolz mit der Farbe des Urwaldes.
    »Wie hat der sich denn hierher verirrt?«, ertönte hinter ihr eine Stimme.
    Schuldbewusst drehte Elisa sich um, um hastig zu erklären, dass sie die Arbeit keineswegs hatte schleifen lassen wollen, doch Fritz schien es ihr ohnehin nicht anzulasten.
    »Das war ein Kolibri«, erklärte er. »Hoffentlich findet er wieder aus dem Dickicht heraus.«
    Elisas Blick fiel auf die glockenförmige, dunkelviolette Blume, in die der Vogel seinen Schnabel gesteckt hatte, und diese schien ihr nun, da er fort war, irgendwie verwaist.
    »Er sucht nicht nur nach Blütennektar. Er frisst auch die Insekten, die sich in den Blüten verstecken«, erklärte Fritz.
    Es war selten geworden, dass Fritz sein Wissen so ausführlich preisgab, noch seltener, dass er es ungefragt tat, und schon im nächsten Augenblick meinte er: »Lass uns weitermachen.«
    Elisa nickte. Fritz war der fleißigste Arbeiter von allen, Lukas der schweigsamste – und Poldi der faulste. Im letzten Jahr war er in die Höhe geschossen, maß nun einen halben Kopf mehr als sie und sah aus der Ferne wie ein erwachsener Mann aus. Das knabenhafte Gesicht mit der Stupsnase, den blauen, neugierigen Augen und den Sommersprossen passte nicht recht zu dieser Statur, und die Kräfte, die er zugelegt hatte, stellte er nur selten unter Beweis.
    Dennoch: Jedes Mal, wenn sie verspätet von der Waldarbeit zurückkehrten, stürzte sich Christine mit einem erleichterten Aufschrei als Erstes auf ihn und umarmte ihn am längsten. Nicht, dass sie auch nicht streng sein konnte. Sie verteilte Backpfeifen so leichtfertig wie eh und je, an die kleinen Mädchen ebenso wie an die großen Söhne. Doch was Elisa auf dem Schiff noch verborgen geblieben war, offenbarte sich hier jeden Tag: Poldi stand Christine am nächsten. Für ihn sparte sie das beste Stück Brot. Und ihm trug sie auch Talg auf die rissigen Hände auf. Die Hände von Fritz hingegen waren mittlerweile dick verhornt, ohne derlei Pflege zu genießen. Und auch wenn er nie Schmerzen bekundete und man ihn gut kennen musste, um in seiner undurchdringlichen Miene ein Gefühl lesen zu können, so sah Elisa doch, wie seine Lippen sich stets enttäuscht aufeinanderpressten, wenn Poldi wieder einmal diese besondere Fürsorge zuteilwurde, ihm jedoch nicht.
    Ein einziges Mal war es ihm herausgerutscht. »Um ihn sorgt sie sich am meisten«, hatte er bitter zu Elisa gesagt.
    »Nein«, hatte sie ihn zu trösten versucht, »bei ihm zeigt sie es nur am meisten. Auf dich und Lukas kann sie sich verlassen, aber sie weiß, dass Poldi der wankelmütigste von euch ist.«
    Fritz hatte nicht geantwortet, und Elisa war sich nicht sicher, ob sie den eigenen Worten glaubte.
    Das Leben war nicht gerecht, schon gar nicht hier. Wenn sie etwas gelernt hatte, dann dass nicht die Tapfersten und Stärksten die meiste Aufmerksamkeit bekamen, sondern die Schwächsten.
    Ihre Gedanken schweiften zu ihrem Vater – denn, genau genommen, war es seine Arbeit, die sie hier im Wald verrichtete. Zunächst waren nur die Männer dazu auserkoren worden, die Bäume zu fällen und zu Kleinholz zu hacken. Doch kurz nach ihrer Ankunft war Richard von Graberg, seit dem Schiffsbrand schweigsam und verwirrt, krank geworden, hatte hohes Fieber bekommen und mehrere Tage mit dem Tod gekämpft. Und obwohl er diesen Kampf gewonnen hatte, war er danach nicht mehr der Alte. Er weigerte sich, vom Bett aufzustehen, obwohl sein

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