Im Land der gefiederten Schlange
schleichend näher kamen. Aber das war nicht das Schlimmste. Ebenfalls aus südlicher Richtung rollten die Tzitzimime, der Stadt entgegen. Carlos machte mindestens drei Steilgeschütze aus, etliche Haubitzen und die größte Kanone, die er je gesehen hatte. Sie kamen zu spät. Die Artilleriebatterien der Vereinigten Staaten schlossen die Schlinge um Veracruz.
Das vorderste Paar gab seine Schüsse in die Luft ab. Die Detonation des feuchten Pulvers klang wie der Husten einer kranken Lunge. Jetzt wir, jetzt wir! Carlos feuerte, aber neben ihm hallte kein Schuss auf. Miguel schien Probleme zu haben, doch er durfte nicht auf ihn achten. Nur den Ladestock aus den Ringen ziehen, das Pulver auf die Pfanne schütten und die Kugel in den Lauf rollen lassen. Auf das Schießpflaster, das die Kugel sicherte, verzichtete ihre Einheit schon lange, weil kein Nachschub mehr geliefert wurde. Damit die Kugel nicht aus dem Lauf rollte, musste man den Lauf aufwärtsrichten und traf damit meist übers Ziel hinweg. Jetzt aber waren sie ohnehin von ihren Zielen, den feindlichen Wachen, viel zu weit entfernt.
Nicht denken. Spannen und feuern. In dem Augenblick, in dem Carlos den Abzug betätigte, explodierte in seinen Ohren die Welt. Der Rückstoß der Waffe war enorm, weil von dem minderwertigen Zündkraut die doppelte Menge benutzt werden musste. Hören konnte er nichts mehr, doch er spürte das Pfeifen der Geschosse. Nicht Miguel, schrie es in ihm, nicht Miguel. Ohne Unterlass fielen weitere Schüsse, die Morgenstille hatte sich ins Getöse der Hölle verwandelt. Würden die Menschen in der Stadt sie hören, Miguels Liebste Inez, Miguels kleiner Bruder, den er so sehr verehrte?
Explosionen zerfetzten Gedanken. Die Handschuhe!, durchfuhr es ihn. Ich muss die Handschuhe holen. Als er versuchte sich fallen zu lassen, bemerkte er, dass er bereits auf seinen Knien lag. Er wollte die Hände ausstrecken, aber diese pressten sich wie angeleimt auf seinen Leib. Wie durch Spinnweben starrte er darauf. Die Hände waren rot, Blut lief über sie und tropfte auf seine Schenkel und sickerte ins zertretene Gras. Der Schmerz kam erst jetzt. Und gleich darauf kam das Schwarz.
21
Am Morgen, als der Sturm sich legte, gingen alle ihrer Wege – die Männer zur Arbeit, die Frauen, um Lebensmittel zu beschaffen, die Jungen in ihren Unterricht, Stefan zu den Temperleys, Jo zu der ewigen Gerlinde und Luise in Begleitung ihres Bruders Sievert zu den Eycks. Nur Katharina ging nirgendwohin und wurde nirgendwo erwartet. Seit kein Wind mehr tobte und kein Regen mehr prasselte, waren aus der Ferne wieder Schüsse hörbar. Es klang, als würden die nordamerikanischen Soldaten ihre Waffen ausprobieren.
Der Himmel blieb verhangen, trübe wie ihr Gemüt. Gegen Mittag ertrug sie die Leere nicht länger und beschloss, spazieren zu gehen. Besser, das Leben der Stadt zu spüren, als zwischen schweigenden Wänden zu hocken und sich vor jedem Gedanken zu fürchten.
Nach ein paar Schritten kam ihr Felix entgegen. Er trug sein Zeichenbrett und die Schachtel mit Kreiden unterm Arm und wollte die Gasse hinunter, die aus der Siedlung führte. Felix war sonderbar. Zierlich von Wuchs und noch ganz Kind, nicht wie Torben und Friedrich, die längst Mädchen auf die Röcke glotzten. Andererseits aber weder so albern noch so gesellig wie Kinder. Er lebte in einer Welt für sich. Auf einmal war Katharina froh, gerade ihn zu treffen – er wirkte so einsam wie sie selbst, schien aber damit zurechtzukommen.
»Wohin gehst du?«, fragte sie.
»Auf die Plaza«, erwiderte Felix, »den Zócalo. Zum Zeichnen.«
»Ist das klug?«, fühlte sie sich als ältere Base verpflichtet zu fragen. »Bis die Soldaten abgezogen sind, soll doch, wer kann, zu Hause bleiben.«
»Ja«, stimmte Felix ihr zu, »aber ich kann nicht.«
»Und warum nicht?«
»Ich will Angst zeichnen«, antwortete Felix unverblümt wie zuvor. »So viel Angst wie jetzt bekomme ich nicht wieder zu Gesicht.«
Vielleicht hätte sie ihn schelten sollen, doch stattdessen bewunderte sie ihn. Wie schaffte er es, so genau zu wissen, was er wollte? Da hatte sie einen Einfall. »Wäre es dir recht, wenn ich mitkäme? Ich verstehe nichts vom Zeichnen, ich würde dir gern zusehen.«
Zum ersten Mal musste Felix vor einer Antwort überlegen. »Ich glaube, zeichnen, wenn du zusiehst, kann ich nicht«, sagte er. »Aber wenn du nur nicht allein sein willst, komm mit. Hätte ich dich letzte Woche getroffen, hätte ich gefragt, ob ich dich
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