Im Land der gefiederten Schlange
zeichnen darf.«
»Warum das?«, fragte Katharina verblüfft.
»Letzte Woche habe ich Traurigkeit gezeichnet«, erklärte Felix.
Katharina ging mit ihm. Während sie durch seltsam leergefegte Straßen dem Herz der Stadt entgegenzogen, verstärkte sich das Geschützfeuer. Vielleicht war es auch Donner. Vielleicht kam der Sturm zurück.
Als sie den Zócalo erreichten, war Katharina froh, dass Felix sie nicht länger bei sich haben wollte, denn der Anblick des marmorgepflasterten Platzes mit seinen Arkaden, den verliebten Paaren und den Bettlern, die zur Gitarre sangen, schnürte ihr die Kehle zu. Sie war kaum je hier gewesen – im letzten Herbst mit Benito, weil sie ihn so sehr bestürmt hatte. Wie damals schien das quirlige Leben auf dem Platz vom Rest der Stadt abgeschirmt. Bis hierher drangen Sorgen nicht vor. Für die Angst, die er zeichnen wollte, hatte sich Felix den denkbar schlechtesten Ort ausgesucht.
Auch ihm fiel es auf. »Ich glaube, ich gehe ein Stück in Richtung Hafen«, sagte er. »Du kommst allein zurecht?«
Vermutlich war er das einzige männliche Wesen, das ein Mädchen in diesem Trubel verlassen würde, und sie war ihm dankbar. »Darf ich heute Abend deine Zeichnungen sehen?«
»Wenn du magst.«
Dann war sie allein mit ihren Erinnerungen. Mit der Fülle der Bilder, an die sie nicht hatte denken wollen. Sie ging an den Tischen mitsamt den lärmenden Gästen vorbei und dachte: Hätte Felix mich damals gezeichnet, hätte er Glück zeichnen können. Jetzt aber hatte er Luise und den Ichsager dafür.
Männer vertraten ihr den Weg oder riefen ihr anzügliche Komplimente zu. Auf eine böse, schmerzhafte Art gefiel es ihr. Wenn ich für dich nicht genug bin – für andere bin ich es hundertmal. Ein Mann im grünen Gehrock mit wie zerknautschtem Gesicht fragte sie, ob sie durstig sei. Sie ließ sich einladen. In das Café mit der rosa Fassade, in dem Luise mit dem Ichsager gesessen hatte. Der Grünrock bestellte, ohne sie zu fragen, und zählte ihr anschließend seine Verdienste und Vorzüge auf. Die Belagerung kümmere ihn nicht – er wisse in jeder Lage, wie man sich die Genüsse des Lebens verschaffe. Dazu lächelte er Katharina vieldeutig an. Die bemerkte es kaum.
Die Glocke der Kathedrale schlug vier. In pyramidenförmigen Gläsern wurde ihnen ein perlendes Getränk serviert. Katharina nahm ihr Glas in beide Hände und stürzte den Inhalt wie Wasser hinunter. Der Grünrock lachte.
Im nächsten Augenblick zerbrach die Zeit. Es war die Rache der gefiederten Schlange, der weiße Berg Orizaba, der sein Inneres ausspuckte und die Erde platzen ließ. Aus dem geborstenen Marmor des Pflasters stoben Wolken von Rauch und Staub, und in der Mitte loderte eine Flamme auf. Der Donner, mit dem Mauern einstürzten, zerrissen von Schreien, war ohrenbetäubend.
Katharina sah noch, dass keine zehn Schritte von ihr entfernt ein Krater sich auftat, dass Menschen brüllend flüchteten und dass ein Körper sich am Boden krümmte. Dann schlug das zweite Geschoss ein, Staubpartikel spritzten ihr in die Augen und raubten ihr die Sicht. Sie sprang auf und tastete blind ins Leere. Drei Detonationen zählte sie, danach ging eine in die andere über, und in ihren Ohren war nur noch Getöse und Geschrei. Der Rauch biss sich in ihre Kehle, sie musste husten und brach in die Knie.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis die Schüsse sich entfernten und sie die schmerzenden Augen wieder öffnete. Das Geschrei war zu Geheule geworden, als zögen hundert Lloronas über den Zócalo von Veracruz. Der Platz war in Schwaden gehüllt, in denen hier und da Flammen glommen. Der Palacio und die Kathedrale waren unversehrt, doch von den Häusern auf der Frontseite brannte eines, und ein weiteres war nur noch zur Hälfte da. Die zweite Hälfte lag in Brocken am Boden. In dem Haus waren Menschen gewesen – wo waren sie jetzt?
Katharinas Blick flog zur Seite. Tische und Stühle waren umgeworfen, dazwischen lagen eine Damenhandtasche und ein zerdrückter Hut. Der Grünrock war verschwunden.
Warum sie sich aufrappelte und aus dem verwüsteten Garten des Cafés auf den Platz stolperte, wusste sie nicht. Nach wenigen Schritten fand sie den Grünrock. Sein Gesicht war vom Hals weggedreht, als wäre es nicht länger daran befestigt, es war um sich selbst geschraubt und starrte sie an. Der Leib, der zu dem Gesicht gehörte, war aufgeplatzt, und das, was darin gewesen war, quoll schwärzlich aufs Pflaster. Der nächste Schrei,
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