Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
Vom Netzwerk:
der ihr in den Ohren gellte, war ihr eigener. Gleich darauf erfolgte eine neue Detonation. Katharina rannte.
    Wovor sie floh, vor dem entsetzlichen Anblick, vor den Granaten, dem Feuer, spielte keine Rolle. Nur nicht nach hinten schauen, nur weiterlaufen. Instinktiv rannte sie den Weg zurück, den sie vor Stunden mit Felix gekommen war, nach Hause, dorthin, wo sie hätte bleiben sollen. In eurer Nische ist eure Siedlung sicher. Kanonendonner zerfetzte die Luft. Menschen brüllten. Irgendwo zu ihrer Linken ertönte das grässliche Gepolter, mit dem ein Haus einstürzte.
    Was waren das für Waffen, die man nirgends sah und deren Geschosse doch überall zugleich einschlugen? Der kleine Felix mit dem Zeichenbrett fiel ihr ein, Josephine auf dem Weg von Gerlinde, die Männer ihrer Familie in den Kontoren beim Hafen. Waren sie alle heimgekommen, waren sie in Sicherheit? Noch eine lange Straße und noch eine kurze, dann würde sie die Dächer sehen. Doch die Straße, die sie einschlagen wollte, gab es nicht mehr, sie war versperrt von Bergen aus Trümmern, aus denen Flammen züngelten und Glieder von Toten ragten. Schreiend sprang Katharina zur Seite und raste blindlings in eine Seitengasse weiter. Ihre Lungen rangen nach Atem, ihre Sohlen trommelten wie von fremder Hand bewegt.
    Welcher Weg war das? Der Himmel war schwarz vom Rauch, doch über den Dächern leuchtete ein greller Schweif auf wie ein Bote der Abendröte. Sie rannte darauf zu, zwang ihre Beine, die wie Zündhölzchen einknicken wollten, sich weiter zu quälen, schnappte mit aller Kraft nach Luft und bekam doch nicht genug. Wo waren die Menschen, die hier wohnten, warum traf sie keinen? Warum kam ihr nicht ihr Vater entgegen und brachte sie in Sicherheit? Der helle Schweif beschrieb einer Sternschnuppe gleich einen Bogen und verschwand mit einem Krachen zwischen Dächern.
    Gleich darauf loderte der Himmel brandrot auf.
    Mit verzweifelter Kraft lief Katharina weiter, so laut eine Stimme in ihrem Kopf auch schrie, sie solle umkehren. Verkohlte Fetzen und Holzspäne trieben ihr durch die raucherfüllte Luft entgegen. Sie musste husten und brach endlich nieder. Zu ihrer Linken hallten neue Schüsse. Statt liegen zu bleiben, robbte sie auf allen vieren weiter auf das brennende Gebäude zu. Auf ihres Vaters Brauerei.
    Eine Stimme, lauter als alles, brüllte ihren Namen. Zwei Hände packten ihre Schultern, Arme umschlangen sie und hoben sie auf. »Nicht weiter, Ichtaca. Nicht weiter.«
    Er zerrte sie den Weg zurück. Halb trug und halb schleifte er sie, dann fand sie Tritt und stolperte ein Stück weit selbst. Sie brauchte ihren Schritt nicht zu lenken, er hielt sie an sich gepresst und führte sie. Dicht an ihrer Seite spürte sie festes Fleisch und Wärme und Bewegung. Leben. Sie rannten weiter. Irgendwann glaubte sie die Häuser der Engländer zu erkennen. Schüsse und Schreie schienen ferner, und der Rauch war nicht mehr so dicht.
    Benito schloss eine Tür auf und zog Katharina mit sich ins Dunkel einer Remise. Zwischen zwei hohen Wagen schob er sie hindurch, kniete nieder und öffnete eine Klappe im Boden. »Dorthinunter.« Sein Atem ging schwer. »Ich gehe voran und helfe dir.«
    Kurz ließ er ihr Zeit, um keuchend und hustend nach Luft zu ringen. Dann umfasste er ihre Handgelenke, zog sie dicht zu sich und begann die Leiter hinab in die Tiefe zu steigen. Dabei sprach er nicht, sondern sah sie nur an. In fast völliger Finsternis hielt sich ihr Blick an seinen Augen fest.
    Unten half er ihr, sich auf einen Stapel leerer Säcke zu setzen, und ging noch einmal nach oben, um die Klappe zu schließen. Schwärze umfing sie. Die Angst von vorhin, die entsetzliche Angst, der letzte lebende Mensch zu sein, packte sie erneut. Die Bilder des zerfleischten Grünrocks, der zerstückelten Leichen vereinten sich in ihrem Kopf. »Benito!«, rief sie mit dünner, fremder Stimme. Er war mit einem Satz bei ihr, zog sie an sich, grub sein Gesicht in ihr Haar.
    Sie weinte lange und erlösend, ohne sich zu fragen, um wen und um was. Benitos Körper zu spüren half gegen die Kälte und das Grauen. Sie presste sich an ihn und legte das Ohr an seinen Hals, an die Ader, in der sein Leben pochte. Später begann sie ihn zwischen Stößen des Weinens auf den Hals zu küssen, dann den Hals hinunter auf den Ansatz des Schlüsselbeins und unter dem Hemd auf die schweißnasse Schulter. Mit ihren Lippen fühlte sie das Beben, das von Zeit zu Zeit durch seinen Körper rann.
    »Ich mache Licht«,

Weitere Kostenlose Bücher