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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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aneinanderschmiedet wie mit Ketten – und was geschieht mit uns, wenn sie zerreißen?
    »Du musst wissen, was du tust.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Zischen. »Aber bürde nicht eines Tages uns die Folgen auf, wenn aus dem Kind geworden ist, was in ihm gärt.«
    Ein paar Augenblicke lang herrschte so völliges Schweigen, dass Christoph glaubte, ein jeder müsse das Hämmern seines Herzens hören. Dann erhob sich ein wenig schwankend Fiete vom Stuhl. »Nennt ihr das Weihnacht?«, fragte er. »Herumhocken und über Albernheiten streiten? Kommt, Kinder, besser der alte Onkel Fiete erzählt euch noch eine Geschichte.« Nie war Christoph der geschwätzige Vetter so lieb gewesen – zumindest bis er anhob, die Geschichte zu erzählen. »Passt auf, hier habt ihr eine, die euch das Gruseln lehrt. Gewiss hat doch jeder von euch schon einmal des Nachts das Geheul gehört, das hier durch die Gassen weht, und gewiss habt ihr euch gewundert, wer das wohl ist, der da umherzieht und so zum Steinerweichen heult. Vielleicht habt ihr ja eure Eltern gefragt, aber die sind zu sehr mit ihrem Gezänk beschäftigt, um euch Antwort zu geben. Also werde ich es euch sagen. La Llorona ist es, die nächtens um unsere Häuser streift, die weinende Frau, die um ihre verstorbenen Kindchen bittere Tränen vergießt und niemals Ruhe findet.«
    La Llorona, die Verräterin aus Liebe. Dass sie um die Häuser ihrer Siedlung strich und bitterlich weinte, hatte Christoph tatsächlich nie verwundert. So wenig, wie ihn die Taube wunderte, die damals gegen ihr Fenster geflattert war und Marthe einen Todesschrecken versetzt hatte.
    »Jetzt reicht es.« Mit einem Satz sprang Marthe auf. In ihrem dunklen Kleid, die Hände in die Hüften gestemmt, sah sie aus wie das Inbild des Zorns. »Findest du das taktvoll? In meinem Haus von gestorbenen Kindchen zu reden, und das in der Heiligen Nacht?«
    »Gemach, gemach! Von kleinen Jungen, die an Seuchen sterben, ist doch keine Rede.« Beschwichtigend hob Fiete die Hände und machte damit alles nur noch schlimmer. Marthes kleiner Sohn Hannes, der mit kaum drei Monaten gestorben war, wurde niemals erwähnt. Marthe wollte es so, und die Übrigen respektierten ihren Wunsch. Lasst ihr doch endlich Frieden, dachte Christoph, der den Blick nicht vom erstarrten Gesicht seiner Schwester wenden konnte. Hatte Marthe nicht genug gelitten? Wieder fiel ihm der Abend mit der Taube ein. So vor Entsetzen starr hatte sie auch damals ausgesehen. Es war, als wäre der Schrecken jener Augenblicke niemals ganz gewichen. Marthe hatte es schwerer als sie alle, obwohl sie keine Sorge um Geld kannte. Nach Hannes’ Tod war ihr kein Kind mehr geschenkt worden, und um Katharina, ihren Augapfel, lebte sie in ständiger Furcht.
    »Keine Mutter, der ihr Kindchen traurig gestorben ist, hat Grund, nachts ruhelos um die Häuser zu streichen«, fuhr Fiete zu allem Unglück fort. »Ich erzähle euch von einer anderen Mutter, von der Llorona, der Heulenden, die ihren Kindchen mit eigenen Händen das Leben nahm. Ertränkt hat sie sie – und wisst ihr auch, warum? Weil ein Feind ihres Volkes ihr Vater war! Die schuldlosen Kindchen mussten für ihre Sünde bezahlen, und für diese Untat findet sie bis heute keine Ruhe. Das braune Indianervolk nennt sie auch La Malinche. Sie war die Mätresse des Eroberers Cortez, die ihr Land verraten und den Feinden ausgeliefert hat.«
    Wieder verfiel der Raum in Schweigen, als würden selbst die Kinder spüren, dass etwas gesagt worden war, das ungesagt hätte bleiben müssen. Leise schnorchelnde Geräusche verrieten, dass Hille eingeschlafen war – die glückliche Königinmutter, deren umnebelter Verstand sie beschützte. Marthe stand totenbleich beim Kamin und strich immer wieder über die singende Weihnachtsuhr, eine mechanische Liebkosung, die geradezu irre anmutete. Peter, der ihr hätte beistehen sollen, saß daneben wie ein Fremder.
    Endlich stand Fietes Frau Dörte auf, trat hinter ihren Mann und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Jetzt lass es mal gut sein, Fietchen. Du hast beim Wein ein bisschen reichlich zugelangt, und deine Geschichten werden eher unfein.«
    »Meine Geschichten werden unfein?« Fiete fuhr herum. »Ja, dann soll doch einer von euch eine feinere erzählen! Aber das tut ja keiner, das bleibt an dem dummen Fiete hängen, und hinterher ist es dann nicht einmal recht.« Begütigend klopfte Dörte ihm die Schulter, doch Fiete ging darauf nicht ein. »Du zum Beispiel«, wandte er

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