Im Land der gefiederten Schlange
sich an Christoph, »warum erzählst du nicht einen Schwank von eurer Reise? Von eurer Entführung zum Beispiel. Ich bin sicher, daran hätte die kleine Schar hier ihren Spaß.«
Fietes fünf Kinder, auf die er über alle Maßen stolz war, drehten wie auf ein Zeichen die Köpfe, und die Übrigen – Traudes Sohn und Tochter, Christophs Dreigespann und Katharina – taten es ihnen nach. Glaubten sie ernsthaft, ausgerechnet er würde einen Weg finden, die verfahrene Lage zu retten?
»Ich wünsche, dass das hier ein Ende hat«, sagte Marthe, die noch immer die Uhr streichelte. »Wer von diesen Dingen nicht schweigen kann, verlässt mein Haus. Wir Übrigen werden jetzt ein Weihnachtslied singen.« Ohne ein weiteres Wort ging sie zum Stutzflügel, den die Lutenburgs aus der Heimat mitgebracht hatten, klappte den Deckel hoch und begann »Es ist ein Ros’ entsprungen« zu spielen. Sie hatte schon immer miserabel Klavier gespielt, aber für die schlichte Melodie genügte es. Nach und nach fielen die Stimmen ein, die vom Wein aufgerauten, die zittrigen und die kindlich hohen, nur von Christoph kam kein Ton.
Irgendwann spürte er eine Berührung am Arm. Neben ihm stand Katharina. »Magst du nicht singen, trauriger Onkel Christoph?« Ehe er auf eine Antwort sinnen konnte, fuhr der Irrwisch, der sonst so gerne sang, fort: »Ich mag heute auch nicht. Ich sitze lieber still bei dir.«
3
Sorgfältig wischte Benito die seifige Lauge und die Haare von der Klinge und steckte das Rasiermesser zurück in das bestickte Futteral. Er war vierzehn Jahre alt und über Nacht ein Mann geworden. Nicht nur an seinem Hemd, das über Brust und Schultern spannte, merkte er es, nicht nur am Bart, der ihm wie Maiskraut spross, sondern noch mehr an den seltsamen Gefühlen, die in ihm brodelten und sich nicht beschreiben ließen. Sein Bruder Miguel hatte ihm das Rasiermesser geschenkt, der Himmel wusste, wo er das Geld dafür herhatte. In letzter Zeit hatte Benito ab und zu den Eindruck, dass Miguel, der schon neunzehn und ein ganzer Mann war, ihn nicht mehr wie einen dummen Jungen behandelte, und das machte ihn stolz.
Um sich sorgsam zu rasieren, hatte Benito selten Zeit. Seit Miguel es nicht länger ertragen hatte, bei den Deutschen zu arbeiten, hatte er dessen Aufgaben übernommen, eilte den ganzen Tag mit Paketen zwischen dem alten Kontor in der Siedlung und den Lagerhäusern im Hafen hin und her und versorgte zwischendurch die Pferde. Heute aber hatte Peter Lutenburg ihm den Abend und die Nacht über freigegeben.
»Die Mutter ist krank, sie will dich sehen«, hatte Miguel gesagt. »Weißt du überhaupt noch, wie deine Mutter aussieht, so selten, wie du dich zu Hause blicken lässt?«
Ist das vielleicht meine Schuld?, wäre es Benito um ein Haar herausgerutscht. Würdest du dir Arbeit suchen, dann müsste ich nicht für uns alle sorgen und könnte meinetwegen jeden Sonntag kommen. Natürlich sagte er nichts davon, sondern bat Peter Lutenburg um Ausgang. Es war ja keineswegs so, dass Miguel keine Arbeit tat, nur erhielt er dafür kein Geld. Miguel leistete Arbeit für Mexiko. Das war wichtiger als alles, was Benito hätte tun können.
Er streifte sich das Hemd, das vom Auswaschen noch nicht ganz trocken war, über und kämmte sich das Haar mit Wasser an den Kopf. In dem Spiegel, den Katharina ihm geliehen hatte, betrachtete er sich. Sein Gesicht war kantiger geworden. Die Mutter würde fragen, ob er nicht genug zu essen bekam. Auf einmal musste er lachen. Vor Tagen hatte Katharina gesagt, sie werde ihn heiraten, sobald sie alt genug sei, und für sie sei er der schönste Mann der Welt.
Er wusste, er hätte sich nicht so viel mit Katharina abgeben dürfen, nicht nur, weil ihre Eltern es verboten, sondern auch, weil er aus dem Alter heraus war. Er bemühte sich, ihr aus dem Weg zu gehen, aber wie ein getreues Hündchen trottete sie hinter ihm her, und er brachte es nicht fertig, sie wegzuscheuchen. Zu wertvoll war ihm die Erinnerung an ihre Kinderfreundschaft. Als er hergekommen war, mit eben sechs Jahren, obgleich sein Bruder ihn für acht ausgab, als er sich von aller Welt verlassen gefühlt hatte, war dieses kleine Geschöpf da gewesen und hatte ihn zu ihrem Freund gewählt. Als dann Miguel das Haus der Lutenburgs verließ, wäre er ohne Katharina vielleicht zu schwach gewesen, durchzuhalten, und die Mutter, Miguel und Xochitl hätten niemanden gehabt, der für sie sorgte.
Immer wieder hatte Katharina ihn bedrängt, ihr zu zeigen, wie
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