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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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weiteres Brüllen niemanden mehr erschüttern sollen, aber dieses ging durch Mark und Bein. »Nein«, brüllte Traude wie eine Frau, die um ihr Leben schrie, »alles, nur das nicht, nicht mein Junge und die Tochter des Mörders!«
    Dann ließ der dumpfe Schlag, mit dem ein Mensch zu Boden ging, die Wände erzittern. Ob Traude sich niedergeworfen oder das Bewusstsein verloren hatte, war nicht auszumachen.

34
    »Dieses eine Mal musst du es tun«, hatte Marthe gesagt. »Wie wir es vor dreißig Jahren vereinbart haben. Dieses Mal kannst du es nicht mir aufbürden. Ich habe meine Kraft verbraucht, um unser kleines Mädchen zu schützen, und wenn du jetzt nicht einspringst, dann war alles umsonst.«
    Christoph hatte mit stocksteifen, fühllosen Händen ihr Haar gestreichelt und ihr mit einer Stimme, die ebenso steif und fühllos war, versichert: »Ich werde es tun, Marthe. Ich erkläre ihr alles, wie wir es besprochen haben, das verspreche ich dir.«
    »Du bringst sie mir wieder, nicht wahr?« Marthe weinte. »Du holst sie von der Mestizin weg und bringst sie mir zurück?«
    Noch einmal gab ihr Christoph sein Versprechen. Wie er es anfangen sollte, war ihm völlig unklar, aber dieses eine Mal würde er nicht zögern, alles zu versuchen.
    Nach jenem Abend, an dem alles zu Bruch gegangen war, hatte Katharina die Burg verlassen. Um das Entsetzen zu steigern, hatte auf einmal Felice im Raum gestanden und verkündet, sie wolle mit Katharina gehen. Die benommene Katharina war nicht in der Lage gewesen, sich um sie zu kümmern, und Felice war einfach hinter ihr hergelaufen, bis Josephine ausgerufen hatte: »Das tust du nicht. Ich verbiete es!«
    Christoph glaubte nicht, zuvor je erlebt zu haben, dass Josephine dem Mädchen etwas verbot. Sie hatte es am Arm ergriffen, und als die Kleine sich mit einem Ruck befreite, sprangen ihr erst Hermann und dann Torben und Friedrich bei. Es hatte etwas Widerwärtiges, zuzusehen, wie ein Mädchen mit Gewalt niedergeworfen und gegen seinen Willen davongeschleift wurde, selbst wenn man wusste, dass es zu seinem Besten geschah. Damals, bei Katharina, hatte er sich hinter einen Baumstamm geflüchtet, damit die verzweifelt Weinende nicht bemerkte, dass er dabei war und ihre Erniedrigung mit ansah.
    Dieses Mal konnte Katharina niemand niederwerfen, ihr die Arme auf den Rücken drehen und sie mitschleifen, während sie in die Nacht hineinschrie, dass sie den jungen Mann, dem sie entrissen wurde, über alles liebte, dass er laufen sollte, nicht sterben und nicht töten. Ich werde dich immer lieben, Benito, bitte lauf doch, lauf! Bis heute hörte Christoph die Schreie. Diesmal aber war Katharina ohne zu schreien zu ihrer Freundin, der Tochter des Barons, gezogen, die in Guerilla-Aktivitäten verwickelt sein sollte. Den Mann, der ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte, wollte sie nicht sehen. »Kathi hat mich um Zeit gebeten«, hatte Stefan Christoph erzählt. »Sie sagt, sie kann an keine Heirat denken, solange ihre Herkunft ihr ein Rätsel ist.«
    »Und du lässt sie gewähren?«, fragte Christoph und kam sich lächerlich vor, denn was hätte er an Stefans Stelle getan? »Glaubst du nicht, du könntest ihr helfen, wenn du an ihrer Seite wärst?«
    Mit jener resignierten Traurigkeit, die Christoph allzu gut von sich selbst kannte, sah Stefan ihn an. »Dass ich die Wahrheit kenne, macht nichts leichter«, sagte er. »Meine Mutter hat sie mir erzählt – damals in Veracruz. Was soll ich tun? Sie belügen oder euch verraten? Hinzu kommt, dass ich mir nicht sicher bin, ob man mit solcher Wahrheit überhaupt leben kann.«
    Christoph begriff, dass er es nicht nur Marthe und Katharina, sondern auch Stefan schuldig war, den Schritt zu gehen. Der junge Mann glaubte die Wahrheit zu kennen – wie vielen ging es ebenso? Die Wahrheit schien der riesenhaften Pyramide des Schlangengottes zu gleichen, die in Stufen gebaut war – ein jeder nahm an, auf der obersten Stufe zu stehen, doch dort oben, wo einst Menschen in ihrem Blut geopfert worden waren, standen er und Marthe allein. Dort durfte kein Menschenopfer mehr erbracht werden! Er musste tun, was sie für den Notfall vereinbart hatten, er hatte sein Wort darauf verpfändet.
    Katharina versah nach wie vor ihren Unterricht im Deutschen Haus, aber dort ließ sie sich nicht abfangen. Mithin nahm Christoph den Wagen des Geschäfts und fuhr hinaus nach Chapultepec. Dort, am Fuß des Hügels, wo von üppigen Wäldern umgeben das einstige Schloss der

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