Im Land der gefiederten Schlange
und Splittern. Durch den Raum, keine Armlänge vor ihrem Gesicht, flog ein Geschoss, traf etwas, das auf der Anrichte stand, und löste dort noch einmal, viel leiser, ein Klirren und Splittern aus.
Geschrei gellte Katharina in den Ohren und mischte sich mit den Schritten weiterer Familienmitglieder, die herbeigeeilt kamen. »Es ist die Taube!«, schrie ihre Mutter, stürzte auf die Knie und hämmerte mit den Fäusten auf die Trümmer ihres Bettes ein. »Es ist wieder die verdammte Taube, der Tod, der Tod!«
Katharina glaubte die Wiederholung einer Szene zu erleben, die sie durch ihre Kindheit verfolgt hatte. Ihr Vater stand unbeweglich an der Wand, auch sie selbst stand unbeweglich und starrte auf ihre starke, beherrschte Mutter, die als schreiendes Bündel auf dem Boden lag. Es war Onkel Christoph, der eingriff – Onkel Christoph, der seiner eigenen Tochter nicht hatte helfen können und der für keinen sonst je die Stimme erhob. Er ging neben der Mutter in die Knie und streichelte sie. »Es ist doch gut, Marthe. Es war ja keine Taube. Jemand hat uns einen Stein ins Fenster geworfen, weil er zornig auf die Fremden in der Stadt ist. Es hat mit uns nichts zu tun, wie du immer sagst, nur mit Mexiko.«
Die Schreie der Mutter gingen in ein Weinen über. »Das Kartenhaus bricht zusammen«, brummte die alte Hille auf Julianes Rücken. »Erstaunlich lange hat’s ausgehalten, aber am Ende ist doch alles auf Sand gebaut.«
Katharina musste Stefans Hand mit aller Kraft drücken, um nicht selbst loszuschreien. »Sag’s ihnen«, entfuhr es ihr. »Sag meinem Vater, dass wir heiraten wollen, mach diesem Irrsinn ein Ende.«
Sie gab seine Hand frei. Unendlich langsam löste er seine Finger aus ihren und setzte einen Schritt in den Raum. Es war, als überschritte er eine Grenze, als wäre jäh etwas Wirklichkeit geworden und etwas anderes unwiederbringlich vorbei. Im Geschrei und dem Weinen glaubte sie auf einmal Klänge der abgebrochenen Habanera zu vernehmen. Es wird gut, sprach sie sich beruhigend zu. Stefan war klug und freundlich, er würde nie ihre Würde verletzen, wie Hermann und Helene es mit ihren Ehepartnern taten, und er würde sie nicht im Stich lassen, wie ihr Vater es mit ihrer Mutter tat. Er wusste sie zu schätzen. Nur eine Seite von mir!, begehrte eine Stimme in ihr auf. Zugleich flog ihr Blick hinüber zur Anrichte, auf den Gegenstand, der von dem Stein zerschlagen worden war. Es war das Glas vor dem Bild, das dort gestanden hatte, die alte Daguerreotypie aus Veracruz.
Endlich öffnete Stefan den Mund. »Ich würde gern mit dir reden, Onkel Peter«, sagte er. Obwohl er nicht laut sprach, brachte er den Lärm zum Verstummen. Verlegen warf er einen Blick in die Runde, ehe er rührend unbeholfen in die Knie ging. Es war diese Geste, die Katharinas Fassung den Rest gab, die das Bild heraufbeschwor, das sie auf immer verbannt hatte. Das Bild eines blutjungen Mannes mit schwarzem, von ihren Händen zerzaustem Haar und leuchtenden dunklen Augen. Ich nütze dir nicht einmal auf Knien, also kann ich auch sitzen bleiben, hörte sie ihn sagen. Mein liebstes, verrücktes Mädchen, wenn der Krieg je ein Ende hat, gehe ich auf die Universität.
»Kathi und ich«, sagte Stefan, räusperte sich und begann noch einmal von vorn. »Kathi und ich möchten gern heiraten, Onkel Peter. Ich bitte dich dafür um dein Einverständnis.«
Die Stille, die folgte, war der pure Segen. Sie gab Katharina Zeit, wie eine Erstickende nach Luft zu schnappen. Dann hörte sie ihren Vater stammeln: »Ja, Stefan, du lieber, guter Junge …« Er eilte geradewegs auf Stefan zu und zog ihn an beiden Händen in die Höhe.
Gleichzeitig rappelte ihre Mutter sich auf, lief durchs Zimmer und fiel Katharina um den Hals. Über ihr ohnehin nasses Gesicht strömten neue Tränen. Sie presste es an Katharinas Schulter und murmelte: »Danke, meine Kathi. Mein Schatz, mein Liebstes. Das ist der glücklichste Tag in meinem Leben.«
Dann ist es das wert, dachte Katharina. Was immer es gekostet hat, es ist es wert.
In der Zwischenzeit hatte Fiete einen der Nachtkästen des zerlegten Bettes zu sich herangezogen, war hinaufgeklettert und verkündete, wenn auch mit brüchiger, vor der Zeit gealterter Stimme: »Liebe Familie, ich habe heute die Freude, euch die Verlobung meines lieben Neffen Stefan Kurt Hartmann mit meiner lieben Nichte Katharina Lutenburg bekanntzugeben …«
»Nein!«, brüllte eine Stimme in den Raum. Nach all dem Geschrei hätte ein
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