Im Land der gefiederten Schlange
den nächsten Morgen angesetzte Abreise der Novara musste verschoben werden, weil der Kaiser einen Schwächeanfall erlitten hatte. Das ist sein Herz, das Abschied nimmt, dachte Valentin und lernte in diesem Augenblick, dass es möglich war, in der Schwäche Stärke zu beweisen. Maximilian war nicht nur in seiner Kraft ein Muster, sondern zugleich in seiner Empfindsamkeit. Drei Tage später, am Nachmittag des 14 . April, lichtete die Novara schließlich ihren Anker, um nach einem Zwischenstopp in Rom Europa den Rücken zu kehren. Der Platz vor dem Schloss Miramar und die Straße bis hinunter zum Kai waren schwarz vor Menschen, die dem geliebten Herrscher winkten. Max von Habsburg stand an der Reling, winkte zurück und weinte.
Valentin dachte an seine Mutter, die für ihn gestorben wäre, an seine Schwestern und an die süße Veronika, aber er konnte nicht weinen. Wenn ich zurückkomme, will ich es können, beschloss er. Er hatte begriffen, dass zu dem, was sein Kaiser tat, so viel Mut und Größe gehörten wie zum Sturm in eine Schlacht.
38
Anfang Mai gaben Martina und Felix ihre Verlobung bekannt. Die Hochzeit wollten sie aufschieben, bis in Mexiko Frieden herrschte, die fremde Macht abgezogen und die gewählte Regierung in ihre Rechte wiedereingesetzt war. Denn das Unglaubliche schien sich zu bewahrheiten: In Europa, dem Kontinent, den Katharinas Familie die Heimat und Martina den
Mond
nannte, war ein österreichischer Prinz zum Kaiser von Mexiko erklärt worden. Die Regierung Juárez hielt nach wie vor ihr Quartier im Norden, und ihre Truppen steckten eine Niederlage nach der anderen ein. Angeblich war der sogenannte Kaiser bereits auf dem Weg nach Mexiko und seine Landung in Veracruz nur eine Frage der Zeit.
Katharina beschloss, auf das Verlobungsfest zu gehen, weil sie es Martina und Felix nicht abschlagen konnte. In diesen Monaten, in denen sie sich fühlte, als würde sie wurzellos durch eine Welt taumeln, zu der sie nicht gehörte, waren die beiden ihr einziger Halt. In ihr aber nagte Angst. Sie war nicht sicher, wovor sie sich mehr fürchtete – davor, den Menschen zu begegnen, die sie ihre Familie genannt hatte, oder vor Benito Alvarez. Die Familie hatte ihr zahllose, von Christoph verfasste Briefe ins Deutsche Haus gesandt. Jeder verstehe ihren Zorn, hieß es darin, dennoch bitte man sie um Vergebung, denn schließlich habe man nichts als das Beste gewollt. Katharina aber verspürte keinen Zorn. Wie kann ich zornig sein, wenn ich nicht weiß, was geschehen ist? Wie kann ich vergeben, wenn niemand mir sagt, was es zu vergeben gibt?
Sie antwortete höflich auf die Briefe und bat um mehr Zeit. Einmal versuchte ihre Mutter –
Marthe,
verbesserte sie sich –, sie vor dem Klassenraum abzufangen. Katharina erwiderte ihren Gruß, wandte sich dann aber rasch einer Schülerin zu und ging mit dieser davon. »Bitte komm nach Hause«, rief ihr die Frau, die ihr Leben lang ihre Mutter gewesen war, hinterher. »Ich vermisse dich so.«
Ich vermisse dich auch, dachte Katharina. Sie hatte dieser Frau in den Armen gelegen und geglaubt, sie sei in ihrem Leib gewachsen. Die Lücke, die in ihr Leben gerissen worden war, klaffte so gewaltig, dass sie sie zu verschlingen drohte. Ich vermisse euch alle, aber nicht, weil ich nicht mehr bei euch lebe, sondern weil es euch in Wahrheit nie gegeben hat.
Ein einziges Mal kam ein Brief ihres Vaters.
Peters.
Er war keine zehn Zeilen lang.
»Meine kleine Taube. Dass Du mich hasst, verüble ich Dir nicht. Ich will nur, dass Du noch weißt, was ich Dir einmal gesagt habe. Ich bin ein maulfauler Hanseate und tue mich mit diesen Dingen schwer. Aber ich habe Dich immer geliebt. Egal, was ich getan habe, egal, was wir alle getan haben, Du warst vom ersten Tag an das Schönste für mich. Das Glück meines Lebens, und Du bist es noch. Dein Vater, der ich in meinen Augen bin und bleibe.«
Ich wünschte, du würdest es mir sagen, dachte Katharina. Das, was ihr getan habt. Ich wünschte, einer von euch hätte den Mut dazu.
Nein, sie konnte nicht zornig auf ihre einstige Familie sein. Wenn sie an sie dachte, fühlte sie sich traurig und leer. Zornig hingegen war sie auf Benito Alvarez.
Es war der Zorn, den sie sich nie gestattet hatte. Nicht als sechzehnjähriges Mädchen, das gegen die Tür des Raums, in den man sie gesperrt hatte, tobte und verzweifelt nach ihm schrie. Nicht als Achtzehnjährige, verschleppt in eine fremde Stadt und noch immer nicht in der Lage zu begreifen, was man
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