Im Land der gefiederten Schlange
Küchengarten. Menschen, die einen großen Schmerz erfahren, werden ungerecht, hatte die Tante gesagt und ihr den Rücken gestreichelt. Wenn der Schmerz zu groß wird, schlagen sie blindlings um sich und sehen nicht, wen sie treffen. Sie bemerkte, dass auch die Tante geweint hatte. Auf halbem Weg blieb sie stehen, hob die Arme und hielt ihr den Holzkasten hin. »Ich habe in diese Familie geheiratet«, sagte sie. »Ihre Beschlüsse habe ich hingenommen, um nicht alleinzustehen, und jetzt bin ich zu alt, mich zu wehren. Jetzt muss ich auch hinnehmen, dass dort oben mein kleiner Sohn Hochzeit feiert und ich ihn nicht umarmen darf. Wirst du Felix dies von mir geben, Kathi? Ich habe kein Geld, ihm ein Geschenk zu kaufen. Es ist sein erster Malkasten.«
Katharina wollte zu ihr laufen, doch der Bann, der ihr die Glieder lähmte, hielt an. »Ja, ja, ja!«, versuchte sie zu rufen, vernahm das Krächzen aus ihrer Kehle und fürchtete, Tante Dörte werde nichts hören. »Komm doch bitte mit mir«, krächzte sie weiter, jetzt endgültig unhörbar.
Unschlüssig blieb die alte Frau auf der Straße stehen und reckte die Arme mit dem Kasten.
»Hast du mit ihr auch kein Mitleid?«, schrie Jo. »Was hat dir denn Tante Dörte getan?«
Ich halte es nicht länger aus, dachte Katharina. Ich breche hier im Garten zusammen, und was geschieht dann mit mir? Was geschieht mit uns allen? Im nächsten Augenblick durchmaß ein Mann mit schier lautlosen Schritten das kurze Stück Garten. »Es ist jetzt genug«, sagte Benito zu Josephine und ging an Katharina vorbei zu Tante Dörte. Sie hätte rasend vor Wut sein sollen, weil er ihr gefolgt war, doch stattdessen war sie so erleichtert, dass die Starre sich löste und sie an allen Gliedern zu schlottern begann. Benito sprach leise mit Dörte und nahm ihr Felix’ Malkasten ab. Stefan hatte wohl vor Schrecken Felice losgelassen, die mit einem Aufschrei losrannte und sich an Benitos Arm krallte. »Ist das wahr, was meine Mutter sagt?«, rief sie zu Katharina hinüber. »Hast du mich nicht mehr lieb?«
»Natürlich ist das nicht wahr«, sagte Benito, klemmte den Kasten unter einen Arm und legte den anderen um Felice. »Sie müssen bald zusammenkommen und diese Dinge miteinander bereinigen. Aber nicht mehr heute. Wir sind aus zerbrechlichem Material gemacht, wir können so viel nicht aushalten.« Sacht und bestimmt führte er das Mädchen, das sich in seinen Arm schmiegte, zu seiner Mutter zurück. Dörte schloss sich ihnen an.
»Dich braucht sie doch auch nicht mehr, Ben!«, schrie Jo und packte ihn mit beiden Händen an den Frackaufschlägen. »Dich wirft sie genauso weg wie uns.«
Er befreite sich. »Ich glaube, Sie brauchen einander alle«, sagte er mit einem Lächeln in der Stimme. »Aber das ist nicht meine Sache – und das, was mich betrifft, nicht Ihre. Ich wünsche Ihnen gute Nacht. Herr Hartmann, soll ich Ihnen einen Wagen holen?«
»Ich heiße Stefan«, sagte Stefan.
Katharina sah ihn nur von hinten, bildete sich aber ein zu hören, wie Benito grinste. »Das weiß ich. Holen wir einen Wagen? Es steht zu befürchten, dass diese Stadt keine ruhige Nacht vor sich hat.«
Er ging mit Stefan die Straße hinunter bis zu der Plaza an der Schmalseite der Alameda, wo die Mietkutscher warteten. Reglos, wortlos, entkräftet blieben die Frauen in der Dunkelheit stehen, bis die Männer mit dem Wagen wiederkamen. Benito sprang vom Trittbrett und half Dörte, Josephine und Felice hinein. »Wann sehe ich Sie wieder?«, rief das Mädchen.
»Sicher bald.« Benito lachte. »Wir laufen uns doch ständig über den Weg, als wäre die Stadt ein Dorf.«
Als der Wagen anfuhr, blieben sie beide einen Herzschlag lang stehen. Dann kam er zu ihr und stellte den Malkasten ab. Im letzten Moment, dachte sie, während ihre Beine nachgaben. Er fing sie und hielt sie. Durch ihren Körper bahnte sich eine gewaltige Woge, die sich in Schluchzen entlud und Jahre auslöschte. »Traude ist tot«, sagte sie weinend, wie sie »Luise ist tot« weinend gesagt hatte, legte ihren Kopf an seine Brust und klammerte sich an ihm fest, »Traude ist tot, und ich bin schuld.« Das Weinen steigerte sich, wie um nie mehr aufzuhören. Jeder Atemzug, um den sie rang, erstickte in einem neuen Ansturm der Fluten. Von Grund auf durchgerüttelt fühlte sie sich, als die Wellen endlich abebbten und das Atmen dazwischen gestatteten. Die letzten Schluchzer klangen wie das Fiepen eines Welpen. Dort, wo ihre Wange auf Benitos Brust lag, war
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