Im Land der gefiederten Schlange
Rücken hinauf. Er hatte recht. Woher wollte sie wissen, was aus diesem Mann geworden war? Ein Attentäter? Ein bezahltes Mordwerkzeug? »Mach, dass ich dir glauben kann«, rief sie verzweifelt. »Schwöre bei irgendetwas, das dir heilig ist!«
Er sah sie noch immer an. Zweimal hob und senkte sich sein Kehlkopf, als würde er an einem Klumpen schlucken. Dann hob er die Hand und legte ihr beide Schwurfinger an den Hals, auf die Schlagader, dorthin, wo ihr Leben pochte. »Ich schwöre«, sagte er. »Was immer geschieht, ich rühre deinen Valentin nicht an.«
Einen Pulsschlag lang ließ er die Finger dort ruhen, dann zog er sie fort. Ungläubig sah sie zu ihm auf, und ihre Blicke trafen sich. Ihr Herz raste. Im nächsten Augenblick lagen ihre Arme um seinen Hals und seine schlangen sich um ihre Schultern. Mit weit offenen Augen näherten sie einander die Gesichter, führten ihre Lippen zueinander, wie man eine Wunde verschließt. Sie küsste ihn, und er küsste sie. Als hätte ihnen sonst auf der Welt nichts gefehlt.
Im Kuss fehlte ja nichts. So viel Erinnerung erwachte, und so viel Neues keimte auf, alles wuchs zusammen und wurde wieder heil. Seine Hände streichelten ihren Rücken, ihre Hände streichelten seinen Nacken, und ihre Leiber, dort, wo sie sich berührten, bebten. Ihre Lippen beharrten aufeinander, fest genug, um das Gewicht zweier Welten daran aufzuhängen. Die Wärme, die ihr in Wellen durch die Glieder rollte, löschte aus, dass sie seit Monaten fror.
Ihre Finger gruben sich unter seinen Hemdkragen, lockerten die Bindung des Plastrons, spürten feinen Flaum auf bloßer Haut. Sie wollte tiefer tasten, gieriger zufassen, da vernahm sie hinter sich ein raschelndes Geräusch. Er hörte es auch und hob wie ein witterndes Tier den Kopf. Die Schutzhülle um sie zerbrach. Sie sah wieder klar und erkannte, was sie getan hatte, dass sie den falschen Mann in den Armen hielt, statt nach dem richtigen, nach dem, der sie liebte und brauchte, zu suchen.
Vor Entsetzen wollte sie schreien, riss die Hand in die Höhe und holte aus. Das war es, was Frauen taten, wenn ein Mann sie gegen ihren Willen küsste, es war die einzige Lösung. Sie schrien auf und ohrfeigten ihn, und damit war das, was nicht sein durfte, ausradiert. Benito hielt völlig still, nicht ein Lid zuckte. Als ihre Hand seine Wange traf, war dem Schlag die Kraft entwichen wie Luft aus einem Ballon. Bleischwer sank ihr Arm hinunter. Er verzog keine Miene, und seine Augen hatten nicht aufgehört sie anzusehen. Seltsam, dass sie angenommen hatte, sie wären schwarz. Wären sie schwarz gewesen, so hätten sie blicklos sein müssen, es hätte nicht zu erkennen sein dürfen, was jäh darin aufblitzte. Schmerz. Als hätte ihr Schlag sein Gesicht mit ganzer Wucht getroffen. »Möchtest du es noch einmal versuchen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann bitte ich um Verzeihung«, sagte er. »Kann ich noch etwas für dich tun?«
Wiederum, unter größter Anstrengung, schüttelte sie den Kopf.
Er deutete eine Verbeugung an, nahm den Malkasten vom Boden und ging den Pfad zwischen den goldenen Teerosen entlang zurück zum Haus. Sie sah seinem Rücken nach, den schwarzen Frackschultern, dem erhobenen Kopf, und ein Wort lag ihr auf der Zunge, doch ehe es entwischte, schloss sie die Lippen. Der Geschmack nach den seinen war noch auf der wund geliebten Haut. Zwischen den Bäumen schien eine Gestalt zu verschwinden, doch das kümmerte sie nicht. Ihre Finger wanderten zu der Stelle an ihrem Hals, an der ihr Leben klopfte. Dann riss sie sich los, rannte aus dem Garten hinaus und die Straße hinunter. Sie musste einen Wagen auftreiben. Sie musste Valentin finden.
47
In letzter Zeit verspürte Valentin Erleichterung, sooft der Kaiser ihn nach Chapultepec berief. Es war, als wäre die Luft hier, in der Weite, reiner als in der Hauptstadt, als ließe sich unter dem Dach der tausendjährigen Zypressen, auf dem Hügel, auf dem schon der mächtige Aztekenherrscher Moctezuma Hof gehalten hatte, leichter und freier atmen. Auch der Kaiser schien hier ein anderer – der quälende Druck, der den großen Mann zermürbte, fiel von ihm ab.
Um die Audienz zu bitten hatte Valentin Überwindung gekostet. Der Kaiser hatte eigene Sorgen in Hülle und Fülle – wie konnte er ihm seine dazu aufbürden? Letzten Endes aber hatte ihn das Gefühl übermannt, der Sorge nicht mehr Herr zu werden, an nichts anderes denken und sich seinem Dienst nicht mehr mit Hingabe widmen zu
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