Im Land der gefiederten Schlange
Gruber. Wie ich ohne meine Getreuen derlei Schläge verkraften sollte, weiß ich wahrhaftig nicht. Zur Antwort erhielt ich ein Schreiben, in dem mein Bruder mir erklärt, die Regierung der Amerikanischen Union habe ihn darauf hingewiesen, dass man Truppentransporte aus Österreich als Kriegserklärung betrachte. Demnach befinde man sich im Krieg mit Österreich, wenn die Transporte nicht eingestellt würden. Unter solchen Umständen, erklärt mir mein Bruder, könne er keine Verschiffung von Soldaten mehr erlauben, denn die Beziehungen seines Reiches zu Amerika dürften nicht gefährdet werden – schon gar nicht angesichts der Bedrohung aus Preußen. Begreifen Sie das, Gruber? Mein Bruder, mit dem ich die Spiele meiner Kindheit teilte, stellt Beziehungen zu Amerika über die Sicherheit seines eigenen Bruders!«
O ja, ich begreife, hätte Valentin ausrufen wollen. Er hatte nie einen Bruder gehabt, aber er hatte sich, solange er lebte, nach einem männlichen Gefährten gesehnt. Lass mich dein Bruder sein, drängte es aus ihm, ich werde dich nie verraten, ich werde nie etwas über meine Treue zu dir stellen, auch nicht mein eigenes Leben.
»Es tut so gut, sich einmal bei einer verwandten Seele auszusprechen«, fuhr der Kaiser fort. »Vielleicht käme mich der Verrat meines Bruders ja weniger hart an, wenn mir eine eigene Familie geschenkt worden wäre. Ein eigener Sohn! Ist das nicht das größte Geschenk, das der Himmel einem Mann bereiten kann? Leider aber blieben meiner Charlotte und mir solche Geschenke verwehrt. Ein weiterer Schlag. Nicht nur für mich und die Kaiserin, sondern auch für unser so schwer geprüftes Reich.«
Valentin hatte an dieses Problem selbst gelegentlich gedacht, denn um dem jungen Kaiserreich Stabilität zu verleihen, musste die Thronfolge geklärt sein. Dann aber hatte er sich gesagt, der Kaiser sei jung, kaum älter als er, und sie beide hätten noch jahrelang Zeit, um an Kinder zu denken.
»Ich habe deswegen einen Beschluss gefasst, Gruber«, fuhr der Kaiser fort. »Einen schmerzlichen Beschluss, aber einen, der diesem Land zum Segen gereichen mag. Lassen Sie mich Ihr Urteil dazu hören. Ich habe mich entschieden, ein Kind in meinen Haushalt aufzunehmen und es als Sohn und Erben aufzuziehen. Nicht irgendein Kind, sondern den Spross eines mexikanischen Kaisergeschlechts – den zweijährigen Agustin Iturbide. Wenn dann ein Kind mexikanischen Blutes, erhöht durch den Namen Habsburg, dem Volk als Thronfolger vorgestellt wird – dürfen wir nicht hoffen, dass dieses schuldlose Geschöpf die widerstreitenden Kräfte im Land zu versöhnen weiß? Vielleicht vermag es sogar in meinem Herzen und in dem der Kaiserin eine Wunde zu heilen. Man sehnt sich doch mit allen Fasern danach, an ein Menschenkind weiterzugeben, was immer man vom Leben begreift.«
Darüber hatte Valentin sich noch nie Gedanken gemacht, doch etwas anderes schoss ihm in den Sinn. »Was ist denn mit den Eltern?«, platzte er heraus. »Machen sie keine Schwierigkeiten?«
»Nun, die Mutter klagt natürlich«, erwiderte der Kaiser. »Wir haben ihr jedoch versichert, dass sie zum Wohle des Kindes nicht anders entscheiden kann – es wird ja dem Jungen an nichts, das sich ein Kindlein wünschen könnte, fehlen, und die Mutter wird jährlich Berichte erhalten, die sie über die Entwicklung des Knaben in Kenntnis setzen.«
Gott gebe, dass sie sich damit begnügt, dachte Valentin und hoffte, der Kaiser habe sich nicht durch seine Güte ein weiteres Pulverfass in sein Leben gepflanzt.
»Woran denken Sie, Gruber? An den prächtigen Jungen, den Sie einmal haben werden? Schieben Sie es nur nicht zu lange hinaus. Die Verhältnisse im Land mögen ungewiss sein, aber sind es nicht Kinder, die uns Kraft für den Kampf verleihen? Von unserer Seite soll ja auch alles getan sein, um für unsere Offiziere stabile Verhältnisse zu schaffen. Enthält man uns die Österreicher vor, so werden wir uns eben auf unsere Mexikaner verlassen. Wozu habe ich Männer wie Sie, Gruber, wenn nicht, um ihnen den Aufbau unserer Armee anzuvertrauen? Immerhin, mein Schwiegervater in seinem Belgien fährt wacker fort, uns Hilfe zu schicken, und an Menschenmaterial mangelt es ja nicht. Wäre doch nur erst die Guerilla zerschlagen! Doch um dieses Ziel endlich zu erreichen, bereiten wir derzeit verschiedene Maßnahmen vor.«
»Darf ich fragen, an was für Maßnahmen gedacht ist?«, erkundigte sich Valentin. Zumindest war dies – die Zerschlagung der
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