Im Land der gefiederten Schlange
würde ich mich auch schlagen lassen, dachte Josephine und erschrak vor ihrer Bitterkeit.
Nach der Bestrafung verweigerte Felice von neuem das Essen und sprach mit keinem ein Wort. Sie konnte erstaunlich standhaft sein. Hermann hatte seiner Juliane befohlen, das Mädchen nicht aus den Augen zu lassen. Juliane, die auf ihrem Rücken Hille von Raum zu Raum schleppte, hätte sich vermutlich Felice dazu aufgeladen, wenn Hermann es verlangt hätte. Er aber ordnete an, Felice tagsüber in einer der Schlafkammern einzuschließen. Sie drängten sich jetzt alle im rechten Flügel der Burg, den Helene mit ihrer Familie geräumt hatte, und hatten den linken mit seinen zerschlagenen Fenstern den Franzosen überlassen. Somit saßen sie, selbst wenn die Männer im Geschäft waren, so dicht aufeinander, dass dem Mädchen keine Möglichkeit zur Flucht blieb.
»Wir können sie nicht länger einschließen«, verlegte Josephine sich aufs Flehen. »Ich kann nicht zulassen, dass mein Kind verhungert, Hermann.«
»So schnell verhungert sie nicht«, widersprach Hermann gleichmütig. »Du wirst sehen, in ein paar Tagen ist sie weichgekocht und bettelt um ein Schälchen Suppe.«
Aber Felice bettelte um keine Suppe. Sie bettelte um gar nichts, sondern blieb stumm. Josephine bat Stefan, ihr zu helfen. Der versprach, noch einmal mit Hermann zu reden, und wie nicht anders zu erwarten, kam bei dem Gespräch nichts heraus. »Vielleicht hat Hermann ja doch recht«, versuchte Stefan sie zu beruhigen. »Lassen wir Felice noch einen Tag Zeit, und wenn sie dann isst, bitten wir die Sanne, ihr Wecken zu backen. Das Geld dafür treibe ich auf.«
Hätte er mit Kathi eine Tochter gehabt, wäre sie so misshandelt und alleingelassen worden wie Felice? Nie und nimmer, dachte Josephine. Auch wenn Stefan ein Schwächling ist, Kathi hätte ihr Kind beschützt. Arme Felice, deren Mutter dazu das Rückgrat fehlt.
Im Haus gab es niemanden, der ihr helfen würde. Ihr Vater war in seine Sorge um seine Schwester versunken, für ihre Brüder hatte Felice nie existiert, und ihre Mutter erklärte: »Wenn du dich auflehnen willst, dann tu’s, frag nicht mich. Ich habe für mich selbst nicht kämpfen können, wie soll ich es jetzt für dich tun?«
Die Sorgen im Geschäft, die Sicherheit der Burg und die Krankheit von Marthe, die darniederlag wie Traude, beschäftigten die Familie mehr als die Furcht um ihr einziges Kind. Ein Dekret war erlassen worden, das die Männer, die sich Freiheitskämpfer nannten, zu Verbrechern erklärte. Mexiko-Stadt war voll von diesen Freiheitskämpfern, und stündlich schienen neue dazuzukommen. Juárez hatte Mexiko verlassen, das raubte ihnen die Hoffnung, und Hoffnungslosigkeit schlug um in blinde Zerstörungswut. Nacht für Nacht zogen sie in Horden los, tranken billigen Aguardiente und warfen denen, die sie für Fremde hielten, die Fenster ein. »Vielleicht sollten wir die Stadt für eine Weile verlassen«, schlug Stefan vor. »Nur bis sich alles beruhigt hat, wie damals die Engländer in Veracruz.«
»Und wohin willst du gehen?«, bellte Hermann. »Haben deine Engländer dir ein nettes Landgut geschenkt, holen deine Diener uns mit Equipagen ab?«
Damit war dem Vorschlag der Wind aus den Segeln genommen. Dennoch reckte sich Fiete, der wahrhaftig zum Greis geworden war, aus seinem Korbstuhl und rief: »Ich habe meinen Bruder, meinen Vater und meine Kinder in die verdammte Erde dieses Landes gelegt. Von diesem verdammten Land gehe ich nicht weg.«
»Jetzt hört schon auf«, sagte Dörte, streichelte ihm flüchtig das schlohweiße Haar und packte ihren Holzstuhl. »Kommt, setzen wir uns in den Hof, es ist ein so schöner Herbstabend. Ich habe ein paar Mandeln und Kompott aus Guaven, lasst uns das teilen und dankbar sein, dass wir am Leben sind.«
Manchmal taten sie das. Ihre Stühle in den Hof tragen, auftischen, was ein jeder erübrigen konnte, ein Gläschen Schnaps und Naschwerk, und in der Sonne sitzen. »Wir sind die Hamburger Hartmanns«, sagte Hermann dann. »Uns wirft kein Wind und kein Wetter über Bord.« An solchen Abenden war es schön, fand Josephine, Zusammenhalt herrschte, ein Rest vom Geborgensein der Kindheit. Aber ohne Felice war nichts schön. Sie konnte mit der Furcht nicht länger allein bleiben, sie musste mit jemandem sprechen.
Wo er seine Wohnung hatte, wusste sie längst. Sie wusste, wo sich sein Büro befand und in welchen Sälen im Nationalpalast er Verhandlungen bestritt. Während sie das alles
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