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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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auf sie zu achten, muss ich es den Hermann tun lassen, denn als Frau bin ich nicht in der Lage dazu.«
    Betroffen sah er sie an und schwieg. Es war dieser Moment, in dem sie begriff, dass sie ihn liebte. Nicht nur, weil er stillhielt und sich für Dinge ausschelten ließ, die andere Männer ihr getan hatten. Nicht nur, weil er ihr billige Formeln ersparte und nicht tat, als liege eine Lösung auf der Hand.
    »Sie haben einen feinen Menschen erzogen«, sagte er. »Wir sollten Ihnen applaudieren, nicht uns aufplustern und Ihnen törichte Ratschläge geben. Können Sie mir trotzdem einen Gefallen tun?«
    Josephine nickte.
    »Bitte erlauben Sie niemandem mehr, Felice zu schlagen und einzusperren. Ich weiß, ich habe leicht reden, und wenn Sie mich gleich fragen, ob ich die Verantwortung trage, verkrieche ich mich unter dem Tisch. Ich fürchte aber, Sie haben dennoch keine Wahl. Vertrauen Sie Ihrem Kind, Josephine.«
    Tränen stiegen ihr in die Augen und erschwerten das Sprechen. Hinter der Kerzenflamme verschwamm sein schönes Gesicht. »Es ist nicht Felice, der ich nicht vertraue«, brachte sie hervor. »Es ist dieses Land. Die Fremde, die wir nicht begreifen.«
    »Wissen Sie, was ich gern täte, wenn kein Krieg wäre?«, sagte er, und seine Stimme klang zärtlich und traurig zugleich. »Ich nähme Sie mit auf eine Reise nach Querétaro, wo meine Familie wohnt. Ich hätte so gern, dass Sie die Orangenhaine sehen und die endlosen Agavenfelder, die Adler, die über der Stille moosbewachsener Ruinen kreisen, und die Gipfel, die sich wie Sagenstädte aus Meeren von Nebeln schälen. Ich hätte so gern, dass sie dieses Land einmal Mexiko nennen, nicht die Fremde, und dass es Sie lächeln macht, nicht beben. Felice ist die dritte Generation. Lassen Sie doch nicht die dritte Generation Angst vor Mexiko haben. Sie haben immer nur die gefiederte Schlange gesehen, die rasend vor Rachsucht auf Menschen niederfährt. Erlauben Sie Ihrer Tochter, den jungen Quetzalcoatl zu sehen, der seinen Geschöpfen Amarant und Pulque schenkt, damit sie prassen und tanzen.« Sie konnte den Blick nicht von seinen Augen lösen. Verlegen lachte er. »Bitte entschuldigen Sie. Der Wein ist schuld, der setzt in mir einen fürchterlichen Hang zu Geschwafel frei.«
    Sie hätte ihm gern gesagt, dass sie das, was er Geschwafel nannte, wunderschön fand und dass sich noch nie ein Mann die Mühe gemacht hatte, so mit ihr zu sprechen. Stattdessen fragte sie: »Trinken Sie Pulque lieber als Wein?«
    »Nein«, antwortete er.
    »Warum nicht?«
    »Das möchte ich nicht sagen.«
    »Bitte sagen Sie’s.«
    »Weil mein Vater jahrelang davon gelebt hat, aus den Agaven für den Pulque Würmer zu sammeln. Er bekam kein Geld dafür. Er bekam die Würmer. Ich mag nichts trinken und dabei an meinen Vater denken, der Würmer isst.«
    »Es tut mir leid«, murmelte Josephine.
    »Das braucht es nicht. Pulque ist eine Gottesgabe, vom Würmeressen stirbt man nicht, und irgendwann werden auch wir noch lernen, wie man Wein macht.« Geschmeidig erhob er sich und trat vor sie hin. »Kommen Sie. Wir suchen Ihnen einen Wagen, der Sie nach Hause zu Ihrer Tochter bringt.«
    Draußen war die Nacht hereingebrochen, die jetzt im Herbst früh kam, und die belebte Einkaufsstraße hatte sich geleert. Sie lehnte sich an ihn, ließ sich von ihm führen. Die Wirkung des Weins schien sich im Freien zu verdoppeln, versetzte sie in einen Taumel, von dem sie nur eines wünschte – dass er nicht verstrich. Lass mich jetzt nicht allein. Wohin du gehst, nimm mich mit.
    »Eines noch«, sagte er. »Warum erlauben Sie nicht Katharina, Ihnen zu helfen? Sie wissen, wie sehr Felice Katharina liebt.«
    Es war seine Art, Katharina zu sagen, die den seligen Taumel zerschlug. Josephine blieb stehen. »Von Katharina will ich nicht sprechen«, entgegnete sie. »Sie hat die Familie verlassen, nicht einmal ihre kranke Mutter kümmert sie. Mit mir und meiner Tochter hat sie nichts mehr zu tun.«
    Er blieb ebenfalls stehen und sah sie herausfordernd an. »Finden Sie nicht, Ihre Familie sei Katharina etwas schuldig? Die Wahrheit über ihre Herkunft? Vielleicht käme sie ja gern in Ihren Kreis zurück, wenn man sie wissen ließe, wer sie dort eigentlich ist.«
    »Aber mein Vater hat ihr doch die Wahrheit gesagt!«, fuhr Josephine auf. »Sie ist seine Tochter so wie ich. Nach allem hat sie mir auch noch meinen Vater gestohlen.«
    »Nein zu beidem«, sagte er ruhig. »Katharina hat Ihnen nicht Ihren Vater gestohlen. Und

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