Im Land der gefiederten Schlange
herausgefunden hatte, hatte sie sich eingeredet, es sei um Felices willen ihre Pflicht, und dennoch hatte sie sich geschämt.
Am frühen Abend, ehe die Männer von der fruchtlosen Arbeit im Geschäft kamen, brach sie auf. Die geradlinige Allee, Paso de la Emperatriz, die sie einschlug, war neu erbaut. Der Habsburger Kaiser hatte sie nach dem Muster einer Pariser Prachtstraße anlegen lassen, um sein Schloss in Chapultepec mit der Innenstadt zu verbinden. Kleine Plätze unterbrachen die von eleganten Kutschen befahrene Strecke, an deren Rand Josephine einherging. Gern hätte sie verborgene Seitenwege benutzt, doch dazu war die Stadt ihr zu wenig vertraut. Das Haus, das sie anstrebte, lag bei der in wuchtigen Vulkanstein gebauten Iglesia de San Hipolito. Es war ein gestrecktes, geweißeltes Gebäude, in dem über einer Arkade mit Geschäften Wohnungen vermietet wurden.
Eine schöne Gegend, fand sie. Ein wenig versponnen und beschaulich, gediegen, ohne die Pracht, die Menschen in den Ruin trieb. Während sie im Schatten eines Pfeilers wartete, sah sie eine Frau mit ihrer Tochter vom Einkauf kommen, ins Gespräch vertieft und mit Körben am Arm, aus denen buntes Gemüse ragte. Von der anderen Seite kam ihnen ein Mann entgegen, und kaum entdeckten sie ihn, gerieten die Frauen ins Rennen. Die Familie vereinte sich, die Frauen zeigten Einkäufe vor, und der Mann nickte, lobte und lachte. Die Erregung, die die Stadt beherrschte, war auch hier spürbar, Gesprächsfetzen, die ihr zuflogen, kreisten um Politik, doch der Kreis der drei Menschen kündete von einem Frieden, der Krieg und Krisen überdauerte.
So hätte ich leben wollen! Als Josephine aufblickte, sah sie an dem Pfeiler schräg gegenüber eine Indio-Frau, die ebenfalls zu warten schien. Sie war klein und wirkte seltsam verwahrlost, obwohl ihre Kleidung sauber und von guter Qualität war. Ihr Alter ließ sich nicht schätzen. Mager wie ein Mädchen war sie, doch unter ihrem Tuch quoll Haar hervor, das schon ergraute.
Bildete sie es sich ein, oder starrte die Frau zu ihr herüber? Gleich darauf wurde sie von der Unbekannten abgelenkt, denn durch die Arkade kam der Mann, auf den sie gewartet hatte. Ihn zu sehen, obwohl sie vorbereitet war, versetzte ihrem Herzen einen Stich. Sie kannte niemanden, der so gerade ging, der so den Kopf erhoben hielt, wie um seine Welt im Blick zu behalten. Er mochte müde, besorgt oder traurig sein, aber für Josephine sah er stets aus wie ein Mann, der sich mit inniger Liebe seines Lebens freute.
Sie wollte hinter dem Pfeiler hervortreten, doch die fremde Frau kam ihr zuvor. Als sie dem Mann in den Weg sprang, erkannte Josephine, dass sie sie schon gesehen hatte, in der Nacht von Felix’ Hochzeit, in Martina von Schweinitz’ Garten. Die Frau packte Ben am Revers, er beugte sich zu ihr und sprach ein paar Worte. Sie fauchte zurück. Kurz entschlossen fasste er sie um die Schultern und zog sie unter der Arkade hervor in Richtung Straße. Josephine blieb nur zu hoffen, dass er wiederkam.
Irgendwann vernahm sie seine Stimme hinter sich. »Wollten Sie zu mir, Josephine? Es tut mir leid, dass Sie warten mussten.«
»Woher wissen Sie …«, stammelte Josephine.
Er lächelte. »Ich habe Sie vorhin gesehen. Aber ehe ich Sie begrüßen konnte, kam mir meine Bekannte dazwischen.«
»Ich wollte nicht stören.«
»Sie stören nicht.«
Mit Nachdruck behauptete sie: »Ich komme wegen Felice.«
»Das trifft sich gut. Ich habe mich oft gefragt, wie es ihr geht.«
»Schlecht!«, rief Josephine. »Sie müssen mir helfen.« Erleichtert atmete sie auf. Sie hatte es ausgesprochen. Sie war nicht mehr allein.
»Wenn ich kann«, entgegnete er. »Aber sagen Sie, hätten Sie etwas dagegen, mit mir essen zu gehen? Ich weiß, es gehört sich nicht, darüber zu sprechen, doch mir hängt der Magen zu tief, um zu denken.«
Bei seinen Worten bemerkte sie, dass ihr selbst übel vor Hunger war. Sie hatte den Tag über noch nichts gegessen.
»Danke«, sagte er auf ihr Nicken und bot ihr seinen Arm. »Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir in eine Hosteria hinter der Kirche. Unterwegs erzählen Sie mir von Felice, ja?«
Als sie nicht wagte, seinen Arm zu nehmen, zuckte er mit einer Schulter, bat um Verzeihung und ging voraus. Josephine eilte hinterher, wollte etwas sagen, um die Kränkung zu mildern, begriff aber, dass jedes Wort sie verschlimmert hätte. Außerdem fiel ihr ein, dass sie keinen Centavo besaß. Durfte sie von ihm erwarten, dass er für sie
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