Im Land der gefiederten Schlange
bezahlte? Warum nur hatte sie ihr Leben in einem Kokon verbracht und nie gelernt, wie Menschen miteinander umgingen? »Ben«, rief sie, weil sie sich sonst keinen Rat wusste. »Bitte seien Sie nicht zornig auf mich. Ich war noch nie mit einem Herrn aus, und ich esse nie in Restaurants.«
Er wandte sich um und sandte ihr sein Lächeln, das die Last auf ihrem Herzen schmolz. »Machen Sie sich keine Sorgen, ich bitte Sie. Ich gehe nicht als Herr durch und das Restaurant kaum als Restaurant. Aber das Essen ist gut.«
Das Restaurant hieß El Mirador, und wenn es nicht als Restaurant durchging, dann konnten Josephine Restaurants wie Herren gestohlen bleiben. Es lag von der Straße zurückgesetzt hinter Tor und Garten und war ein winziger funkelnder Saal, Damast und Kandelaber in einer Muschelschale. Der Wein, den er bestellte, war sämig und dunkel wie Blut. »Schmeckt er Ihnen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und trank mehr, dann erwiderte sie: »Ich glaube, er soll gar nicht schmecken. Ich mag ihn.«
Von den Speisen auf der Karte vermochte sie nicht einmal die Namen zu lesen. Sie bat um das, was er auch aß, aber er lachte und sagte, er esse knochenweißen Tintenfisch in tintenschwarzer Soße, das dürfe er ihr nicht zumuten. Also ließ sie ihn entscheiden und bekam ein Gemälde von Gericht serviert – laubgrüne Chilischoten, gefüllt mit rosigem Fleisch und leuchtenden Früchten, übergossen mit Rahm und Walnüssen und roten Kernen von Granatäpfeln. »Das ist zu schön, um es zu essen«, rief sie aus.
»Schön ist, dass Sie das sagen«, erwiderte er mit einem Anflug von Stolz. »Es sind Mexikos Farben. Aber essen müssen Sie es trotzdem.«
Eine kleine Ewigkeit lang war das Leben leicht. Es war behutsames Reden und befreiendes Lachen, genussvolles Essen und Wein, der mit jedem Schluck an Süße gewann. In Bens Augen glänzte der Schein der Kerzen, sie waren ruhig auf sie gerichtet, aber das, was darin glühte, war nicht ruhig. Sooft er die Lider senkte, warfen die Kränze der Wimpern Schatten auf seine Wangen, und Josephine ertappte sich bei dem Wunsch, ihn an ebendieser Stelle zu berühren.
»Erzählen Sie mir von Felice«, sagte er, als der Kellner die Teller abgeräumt und den Weinkrug nachgefüllt hatte. Josephine erschrak. Wie konnte sie sich den Bauch vollschlagen und die Not ihrer Tochter vergessen? In wenigen Sätzen sprudelte alles aus ihr heraus. »Ich habe Angst, dass sie verhungert«, schloss sie. »Bitte sagen Sie nicht, sie wird schon wieder essen, denn das sagen Hermann und Stefan, und ihr Gerede ertrage ich nicht mehr.«
»Ich habe es leichter als Hermann und Stefan«, bemerkte er. »Mir erklären Sie wenigstens, was ich nicht sagen darf.«
»So war es nicht gemeint. Sagen Sie, was Sie denken.«
»Ich würde auch nicht essen wollen«, erklärte er, »wenn mich jemand mit dem Stock schlägt. Ich würde mir wünschen, dass mein Körper stark genug wäre, durchzuhalten, denn was bliebe mir sonst, um zurückzuschlagen? Ich war nie so stark. Aber Felice ist es.«
Seine Rechte lag auf der Tischplatte, und ehe sie sich’s versah, hatte sie die ihre darübergelegt. »Was soll ich denn tun?«
Er hob eine Braue. »Ich würde mich entschuldigen.«
»Aber der Hermann …«
»Der Hermann ist nicht Felices Mutter. Sie sind es, die sie enttäuscht hat. Bitte schließen Sie die Tür auf und sagen ihr, dass es Ihnen leidtut. Wird Ihnen nicht übel bei dem Gedanken an das, was sie in dieser Kammer aussteht?«
Doch, dachte Josephine und zog ihre Hand zurück. »Haben Sie vielleicht Kinder?«, fuhr sie ihn an. »Haben Sie je allein ein Kind beschützen müssen in einer Welt, die Sie selbst nicht begreifen? Andere anzuklagen, ohne selbst mit anzupacken, ist so leicht – aber wissen Sie überhaupt, was Sie an meiner Stelle täten?« Erschrocken hielt sie inne. Was fiel ihr ein, diesen Mann zu beschimpfen, der ihr nichts als Freundlichkeit erwiesen hatte und der schließlich nicht verpflichtet war, sich um ihre Probleme zu scheren? »Es tut mir leid«, murmelte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben recht«, sagte er. »Und wenn Sie wollen, packe ich mit an. Ich kann nur leider nicht in Ihr Haus spazieren und durch die Tür auf Felice einschwatzen. Lassen Sie sie gehen. Ich bin in den nächsten Tagen nicht in der Stadt, doch sobald ich wiederkomme, rede ich mit ihr.«
Der Wein war schuld. Sie kannte sich nicht mehr. Statt ihm zu danken, rief sie: »Reden genügt nicht. Wenn niemand mir hilft,
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