Im Land der gefiederten Schlange
die Läden zurückschlug, die lebenshungrigen Schreie der Papageien hörte, aber selbst vom Erwachen des Lebens ausgeschlossen blieb, hätte sie sich am liebsten gleich wieder schlafen gelegt.
Sie war ungerecht. Das weiße Häuschen mit seiner luftigen Sala, dem blitzenden Küchentrakt und der Veranda war reizend, und der See lag am Morgen, wenn sie mit bloßen Füßen hinauslief, vor ihr wie verschüttetes Silber. Sie hatte ihr eigenes Haus, Süßspeisen, die ihr das Mädchen Rosa bereitete, Wein, den der Kaiser persönlich ihr schicken ließ, und Bücher, die ihr aus der Schlossbibliothek übersandt wurden – in so erregender Auswahl, wie sie sie sich als Kind erträumt hatte.
Sie hatte Nächte mit Valentin, in satinduftenden Betttüchern, Champagner auf den Nachtkästen und Liebe bis in die verhangenen Morgenstunden. Valentins Goldhaar, das den blassen Lichtschimmer fing. Valentins Atem, der heftiger wurde, wenn er nur durch die Tür trat. Valentins vollkommene weiße Glieder im Schein der Wachskerzen. Valentins Hingabe, wenn er nach der Vereinigung über ihr niederbrach und stöhnte: »Du hast mich verzaubert, du nimmst mich mit Haut und Haaren, ich kann nicht leben ohne dich.«
Was wollte sie mehr? Was durfte ein Mensch mehr wollen?
Nicht allein sein, schrie es in ihr. Morgens die Sonne sehen, die Obsthändler mit ihren Kisten klappern und Martina kichern hören. Mit Jo über Stefans Gedruckse lästern, in Felix’ Farbpfützen treten, lachen, weil die Mutter und die Sanne schimpfen oder der Vater vor dem Stall falsch pfeift. Felice im Arm halten. Mit meiner kleinen Felice das Wächterlied singen.
Sie hatte ihr Leben inmitten von Menschen verbracht, hatte sich manchmal nach Stille gesehnt und begriff jetzt, dass sie Stille, wenn sie Menschenleere bedeutete, nicht ertrug. Valentin kam, wann immer sein Dienst es erlaubte, doch je mehr sich die Lage verschärfte, desto länger blieb er aus. Tagelang bekam sie niemanden zu sehen als Rosa, die vor ihr knickste und Befehle befolgte, doch kein Wort mit ihr sprach.
Chapultepec war schön. Der naturbelassene Park hinter dem Schlagbaum, der jahrhundertealte Palast. Was aber nützte Schönheit, wenn man sie nicht teilte? Hätte sie mit Valentin hier gelebt, hätte sie glücklich sein können. Mit Valentin und meinem Kind. Mit Menschen, die zu mir gehören, auch wenn sie nicht da sind. Juárez war aus Mexiko vertrieben worden, es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis Frieden einkehrte. Dann würden sie und Valentin ihre eigenen Belange ordnen. Sie hatte alles für ihn aufgegeben und ihm bewiesen, dass ihre Liebe bedingungslos war. Wenn erst Frieden herrschte und er sich nicht mehr um den Kaiser sorgte, würden sie auf diesem Fundament ihr Leben bauen.
Beinahe täglich kam ein Bote mit Valentins Blumen und zweimal in der Woche eine Diligence mit Post. Einmal brachte sie ihr einen kleinen liebevollen Brief von Martina mit einer Zeichnung von Felix, die einen pausbäckigen Säugling zeigte, dem aus dem Bauch eine grinsende Schlange wuchs. Ein anderes Mal kam ein schmales Päckchen von Christoph. Katharina wusste, sie hätte beides ungeöffnet fortwerfen sollen, doch ihre Neugier und ein gehöriger Schwall Sehnsucht siegten. In dem Briefchen von Martina stand: »Quetzalcoatls kleines Geschenk heißt Tomás und brüllt Tag und Nacht, weil es dich kennenlernen will.«
In dem Päckchen von Christoph lag ein grau gebundenes Buch. Der Gedichtband.
Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer vom Meere strahlt.
An der Seite steckte ein Zettel: »Wir denken alle dein. Bitte komm nach Hause. Christoph.« Dafür, dass er nicht
Vater
geschrieben hatte, war sie dankbar. Sie vergrub beide Briefe im Uferschlamm des Sees. Das Büchlein versteckte sie in ihrer Kleidertruhe und kam sich vor wie ein ungezogenes Kind.
Sie verbrachte die Sonntage des Advents allein und würde wohl auch Weihnachten allein sein. Wieder und wieder erklärte ihr Valentin, dass der Krieg nichts anderes zulasse, dass er nicht weniger leide als sie und dass sie ihn, wenn sie ihn liebe, nicht so bedrängen dürfe. Sie selbst kam sich, sooft sie ihn bedrängte, würdelos vor und konnte doch nicht damit aufhören.
Immerhin würde er an diesem Abend, eine Woche vor dem Heiligen Abend, mit ihr ins Theater gehen, ins Gran Teatro Nacional, in der vor Menschen wimmelnden Stadt. Er war besessen von der Furcht, sein Kaiser könne wie Lincoln einem Attentat zum Opfer fallen, weshalb er sogar den Aufbau der Armee
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