Im Land der gefiederten Schlange
nicht verdenken, er war selbst so entsetzt, als hätte er Kathi nie gekannt. Dennoch tat es ihm weh. »Ich denke an Felice«, sagte er. »Danke, dass sie bei euch sein darf. Man sieht ihr an, dass ihr großartig für sie sorgt.«
»Sie sorgt für sich selbst«, erwiderte Martina. »Eine so feine, süße Tochter will ich zu meinem wilden Buben auch haben – am besten gleich fünf davon!«
Felix drehte sich um und zog eine Grimasse, und hinter ihnen perlte Gelächter auf.
Im Windfang des Palais, wo sich alle schüttelten wie nasse Hunde, wagte er zu fragen: »Señor Alvarez kommt wohl nicht?«
Martina zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur: Wenn er nicht kommt, dann war es beim besten Willen nicht möglich.«
Büfett und Bar waren im kleinen Saal aufgebaut, den Felix inzwischen fast vollständig ausgemalt hatte. Zum Bild des Quetzalcoatl, der sich dem Maul der Schlange entwand, und der Josefa Ortiz, die Männer an ihren Zöpfen in die Höhe zog, hatte sich eine der weißgekleideten Malinche gesellt, die an der einen Hand eine Reihe dunkelhäutiger Mexica-Kinder hielt und mit der anderen Cortez und seine Mannen vom Schiff herunterwinkte. Über das letzte Bild schleppte sich ein Maultiergespann, unter dessen Hufen Paläste in Stücke brachen. Den Gestalten, die sich auf dem Karren drängten, fehlten noch die Köpfe. Lediglich zwei von ihnen hatten Gesichter – sie gehörten Felix und Martina.
Der Raum war zu klein für die Scharen der Feiernden, aber vielleicht war das an diesem Tag gerade recht. Der Regen toste gegen die Scheiben, die Menschen standen dicht gedrängt, und das Gemurmel ihrer Gespräche umhüllte sie wie Rauchschwaden.
Stefan stand allein an der Tür, als Benito Alvarez kam. Er stürmte die Treppe hinauf, tadellos gekleidet und dennoch so, wie nach einem Galopp aus dem Sattel gesprungen, das schwarze Haar nass vom Regen, unter dem Arm ein Steckenpferd. Aufatmend zog Stefan sich zwischen Menschengruppen zurück. Was hatte er erwartet? Dass der Mann am Stock ging? Martina stürzte auf ihn zu, und eine Traube folgte. Benito Alvarez lachte, bedachte nach links und rechts Gäste mit Grüßen und bahnte sich seinen Weg zu Micaela von Schweinitz, die den schlafenden Tomás in den Armen hielt. Tief beugte er sich über das Gesicht des Kindes und hielt inne.
Um ihn herum verstummten die Gespräche. Irgendwann bemerkte die Baronin mit einem Schmunzeln: »Wie es aussieht, nimmt mein Enkel mir den Wind aus den Segeln. Die am heißesten ersehnten Gäste wünschen mir nicht einmal guten Tag.«
Benito Alvarez hob den Kopf und sandte ihr ein verlegenes Lächeln, als wäre sie ein junges Mädchen und er ein linkischer Verehrer. »Das ist nicht nett von Ihnen«, sagte er. »Wie soll ein armer Mann sich zwischen so viel Zauber entscheiden?«
Sie lachte, nahm das Kind auf einen Arm und versetzte seiner Wange einen Klaps. »Sie sind kein armer Mann, sondern ein schlimmer. Wir haben Sie furchtbar vermisst. Wie steht es um das freie Mexiko?«
»Das zu verkünden überlasse ich lieber Ihrer Tochter. Sie erwürgt mich sonst.«
Martina war Felix auf die Schultern gestiegen und winkte mit einem rot-weiß-grünen Tuch. »He, Muchacho«, rief Felix hinüber zu Benito. »Wir haben unserem Stammhalter deinen Namen gegeben, auch wenn du’s ans Taufbecken nicht geschafft hast. Durften wir?«
»Wieso meinen?«, rief Benito zurück. »Gebt ihm den Namen von Mexikos Präsidenten! Und jetzt lass deiner Frau das Wort.«
»Unser Präsident Benito Juárez«, rief Martina über die Köpfe hinweg, »ist in Chihuahua einmarschiert! Es lebe die freie Republik Mexiko!«
Musik setzte ein. Im Jubel klangen alle Stimmen wie eine. Der kleine Tomás erwachte, hob an zu brüllen, und einer der Gäste johlte: »Dios mio, Felix – dein Sohn ist ein Kaisertreuer!«
»Was für ein Unsinn.« Benito nahm der Baronin das Kind ab und begann mit ihm zu tanzen. »Er versucht Chihuahua auszusprechen, sonst nichts.«
Er ist wie immer, dachte Stefan, auch wenn das nicht ganz stimmte. Er sah schlecht aus. Mager und hohlwangig, an den Schläfen im Schwarz ein verräterisches Schimmern. Dennoch sprühend vor Wärme und Sinnlichkeit. Wie machte ein Mensch das, sich vom Leben so sehr berühren und so wenig brechen zu lassen? Der Saal tanzte, schwenkte Fahnen, flirtete, rieb in der Enge Schultern und Hüften. Irgendwann ertrug Stefan das Gefühl, ausgesperrt zu sein, nicht länger und floh auf den Dachgarten. Es hatte zu regnen aufgehört.
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