Im Land der gefiederten Schlange
abnehmen und ich dir nicht deine. Wir können sie nur tragen. Dem Hermann werde ich sagen, dass er es mit mir zu tun bekommt, wenn er sich noch einmal an dem Bekannten meiner Tochter vergreift. Und Kathi schreibe ich dasselbe wie früher. Dass wir sie lieben, dass wir ihr Glück wünschen, dass wir uns freuen würden, sie und Herrn Gruber zu sehen. Zumindest haben wir jetzt ihre Adresse. Es kann uns ja niemand verbieten zu hoffen.«
»Nein«, sagte Marthe. »Das kann uns niemand verbieten.« Sie war so traurig, wie ihre Stimme klang, aber ihr Atem ging unbeschwert. Sie war sicher, sie würde die Nacht durchschlafen können, ohne noch einmal von dem Sud des Arztes zu trinken.
»Willst du dich wieder hinlegen?«, fragte er.
Sie nickte.
»Schlaf gut«, sagte er und ging durch den Raum bis zum Fenster. Ihre Augen hatten sich inzwischen an das Dunkel gewöhnt und sahen, was er tat. Er zog einen kleinen Hammer und ein Brettchen aus der Joppe und begann den Spalt im Fensterladen zuzunageln. Sie musste warten, bis die Hammerschläge verklungen waren, ehe sie ihr eigenes Wort verstehen konnte. »Wozu machst du das?«, fragte sie. »Sie schlagen es uns ja doch wieder ein.«
»Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte er. »Es ist Vollmond. Ich möchte nicht, dass du versuchst durch das Loch zu steigen und dich verletzt.«
Einen Augenblick war sie sicher, ihr Herzschlag setze aus. »Du …«, war alles, was sie herausbrachte.
»Ach, Marthchen«, sagte er und wandte sich ihr zu. Wann hatte er sie je Marthchen genannt? »Dass du es bist, die die Mondsucht hat, hab ich immer gewusst. Wenn Vera nachts nach draußen stieg, hatte sie andere Gründe – das mit der Mondsucht hattet ihr, du und Christoph, euch ausgedacht, damit niemand ihr etwas nachsagen konnte.«
Durch das Dunkel starrte sie ihn an. Er hatte recht. Ihr Leben lang hatten sie mehr verschwiegen als ausgesprochen, stets in der Furcht, der andere könne die Wahrheit nicht verkraften, man könne ihn und das bisschen Sicherheit aus den Händen verlieren. Am Ende brach man unter seiner Last zusammen, weil man sie mit niemandem teilen konnte. »Du hast es gewusst?«, fragte sie, noch immer fassungslos.
»Einmal habe ich dich zurückgeholt«, antwortete er. »Von dem Palais, in dem Kathi gewohnt hat. Ohne Schuhe bist du so weit gelaufen, und du hast so geweint.«
Sie streckte die Arme aus. Langsam kam er zurück, setzte sich wieder aufs Bett und nahm ihre Hände. »Es tut mir leid«, sagte sie und war froh, es endlich loszuwerden, selbst wenn sie ihn dabei verlor. Hatte man nicht einen Menschen von Anfang an verloren, wenn man sein Leben mit ihm auf einer Lüge baute? »Es tut mir leid«, wiederholte sie. »Ich habe dein Leben verpfuscht. Ich habe alles getan, um dich an mich zu fesseln, und dann habe ich alles getan, um Kathi an mich zu fesseln – was es kostete, war mir egal. Wenn Fiete über die Azteken geschimpft hat, die für ihr Glück Menschen opferten – ich habe immer gedacht, er meint mich.«
Peter hielt ihre Hände und streichelte sie. »Mein Leben war nicht verpfuscht«, sagte er. »Ich hätte gern viele Kinder gehabt, ich wollte für ein Haus voller Kinder sorgen. Aber dass unser Hannes gestorben ist, war ja nicht deine Schuld.«
Hannes.
Er hatte den Sohn, den sie ihm geboren hatte, nicht vergessen. »Vielleicht hätte Vera dir mehr Kinder geschenkt«, flüsterte sie.
»Vera wollte mich nicht«, sagte er.
»Aber wenn Vera gelebt hätte …« Sie rang nach Atem. »Ich habe so viel Schlimmes getan, so viel, das nach Wahnsinn klingt. Immer habe ich nur an das eine denken können: Wenn Vera gelebt hätte, hättest du sie genommen, nicht mich.«
»Hast du mich nicht gehört?«, fragte er. »Vera wollte mich nicht.«
»Aber wenn sie gelebt hätte? Wenn sie sich von dem Schrecken erholt und jemanden gebraucht hätte, warum hätte sie sich denn nicht dir zuwenden sollen? Du warst so gut zu ihr. Und du hast sie so geliebt.«
»Marthchen«, sagte er, »ich war ein grüner Junge von fünfundzwanzig. Wir wissen nicht, was gewesen wäre, und in meinem stoffeligen Fischkopf fällt mir auch nicht ein, was es uns helfen würde, es zu wissen.«
»Es würde mir helfen«, flüsterte Marthe und war sicher, dass ihr jagender Herzschlag ihre kaum hörbare Stimme übertönte. »Wenn ich dir sagen würde, dass Vera lebt – was würdest du dann tun?«
»Was soll ich denn dann tun?«, fragte er. »Was soll das denn jetzt noch ändern? Heute denke ich doch an Kathi
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