Im Land der gefiederten Schlange
Rotviolett zog der Abend herauf, und die Luft schmeckte wie Wasser mit Eis und Spritzern von Limonensaft.
Er blickte über die Stadt. Von oben, ummauert von Bergen und bewacht von den mahnenden Vulkanen, wirkte sie immer friedlich. Dennoch glaubte er ihr Brodeln zu spüren. Würden die Franzosen wirklich abziehen? Würde Juárez bis hierher vorstoßen? Stefan wusste es nicht, und noch weniger wusste er, was all das zur Folge hätte. Er lebte hier, er unterrichtete Jungen, die hier leben würden – warum gelang es ihm nicht, sich als Teil der Stadt zu fühlen? Ich war immer einer, der außen vor stand. Am Rand des Festes. Ein freundlicher Zuschauer, der niemanden stört.
»Guten Abend«, sagte Benito Alvarez.
Stefan drehte sich um.
»Martina war der Meinung, Sie wären vor mir geflüchtet. Also komme ich Ihnen hinterher.«
»So ist es nicht«, sagte Stefan hastig. Dann verbesserte er sich. »Doch, es ist so. Ich bin froh zu sehen, dass es Ihnen gutgeht. Aber um ehrlich zu sein – ich kann nicht in Ihrer Nähe stehen, ohne mich zu schämen.«
»Das kann nicht sehr angenehm für Sie sein«, bemerkte Benito Alvarez. »Für mich allerdings auch nicht.«
»Es ist so schwer, Sie zu ertragen«, brach es unversehens aus Stefan heraus. »Sie sind bald vierzig, oder? Sie haben eine öffentliche Auspeitschung hinter sich, eine herbe Verletzung der Würde. Einen gewöhnlichen Sterblichen würde das niederstrecken, aber Sie sind ja aus Eisen, nicht wahr? Kaum ist das Blut getrocknet, reiten Sie schon wieder in Ihren Krieg, gewinnen in irgendwelchen Wüsten, von denen ich noch nie gehört habe, Schlachten, überbringen Triumphnachrichten, sprengen Brücken, und zwischendurch tauchen Sie frisch rasiert und strahlend wie Gottes Geschenk an die Frauen auf Martinas Partys auf. Wie soll ein Mann davon nicht beschämt sein? Neben Ihnen komme ich mir vor wie ein mieser kolonialistischer Landräuber. Und Sie sind der edle Aztekenkönig Moctezuma, blendend schön und tapfer entschlossen, für sein Land zu sterben.« Er schlug sich die Hand vor den Mund. Es nützte nichts. Die Worte bekam er nicht in seine Kehle zurückgedrängt.
»Aztekenkönige waren auch Landräuber.« Benito Alvarez ging zum Tisch und zog einen Stuhl zurück. »Darf ich mich setzen?«
»Das ist nicht mein Haus.«
Er schob den Stuhl wieder vor den Tisch und wandte sich zum Gehen.
»Bitte bleiben Sie«, rief Stefan. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist – es ist dieses ständige Leben im Ausnahmezustand, das in meiner Familie herrscht. Als wären wir alle gespannte Sehnen, von denen abwechselnd eine reißt.«
»Das kenne ich«, erwiderte Benito Alvarez, ging zum Tisch zurück und setzte sich. »Bei der kämpfenden Truppe gibt man den Sehnen idiotischerweise noch geladene Waffen.«
Ihre Blicke trafen sich. Zögerlich setzte Stefan sich ebenfalls. »Es tut mir leid.«
»Ach, es nützt doch nichts, dass einem ständig alles leidtut. Irgendwen muss man auch einmal ungestraft beleidigen dürfen, sonst stirbt man ja an Verstopfung.«
»Señor Alvarez …«
»Das letzte Mal hatten Sie mir Ihren Vornamen angeboten.«
»Aber ich kann Sie nicht beim Vornamen nennen!«, rief er schon wieder zu heftig und zu laut. »Sie sind mir zu überlebensgroß dazu.«
Ins Schweigen sandte die Stadt ihre Nachtgeräusche, das Zirpen, Sirren und Säuseln, das Locken und Verführen. »Nein, ich bin nicht aus Eisen«, sagte Benito Alvarez. »Ich bin müde. Von Michoacán bis hierher bin ich durch brennende Dörfer geritten, von denen ich nicht weiß, ob die Gegner oder wir sie in Brand gesetzt haben. Ich habe Angst um meine Familie in Querétaro, ich habe Angst, dass keine der beiden Seiten am Ende noch Kraft haben wird, um das Land wieder aufzubauen, und ich liebe eine Frau, die mich nicht will. Wenn es hilft, kann ich Ihnen auch noch von meinen Rückenschmerzen erzählen. Oder von meinem Magenleiden, über das meine Einheit sich bestens amüsiert.«
»Und wie machen Sie das?«, konnte Stefan sich nicht hindern zu fragen. »Hier hereinzuspazieren, als würden Sie das Leben um den kleinen Finger wickeln?«
»Ich habe ja Zeit«, antwortete er. »Während ich als einsamer Recke durch Kakteenwüsten reite, trainiere ich mein Grinsen. Irgendwann sitzt es fest.«
»Aber bei Ihnen wirkt es so echt!«
»Es ist echt. Sobald mir einer von diesen wundervollen Menschen entgegenprescht und mich mit seiner Liebenswürdigkeit überhäuft, ist alles Training für die Katz. Jedes
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