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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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endlosen Reihen der Soldaten und Geschütze ausmachen, die die Hügel besetzt hielten. Über diese Hügel, vorbei an diesen Reihen musste sie kommen, das schuldete sie ihrem Kind. Danach mochte geschehen, was wollte.
    Ziellos irrte sie durch leere Gassen, erwog hier und da, an ein Haus zu klopfen und um Hilfe zu bitten – aber wie konnte sie von fremden Menschen erbitten, was ihr Geliebter ihr verweigert hatte? Ihre Beine wurden mit jedem Schritt schwerer, in ihrem Kopf dröhnte es, und der Durst war kaum noch erträglich. Die Sonne sank schnell. Dies hier war nicht die Hauptstadt oder Veracruz, es war eine kleine Stadt, die unter der Belagerung ächzte. Nach Einbruch der Dunkelheit würde sie niemanden mehr auf der Straße treffen. Sie musste einen Platz finden, auf dem Menschen waren. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, dass jemand sie ansprach und ihr Hilfe anbot. Ihr wurde klar, dass sie keinen Centavo bei sich hatte. Wenn niemand ihr half, musste sie die Nacht auf der Straße verbringen. Bereits jetzt kroch ihr die Abendkühle in die Glieder. Sie zerrte den Sarape aus der Tasche und wickelte sich darin ein.
    Als sie endlich einen Platz erreichte, an dem noch eine Bar geöffnet hatte und Menschen ihres Weges zogen, war es bereits dunkel, nur aus der Tür der Bar fiel ein Streifen Licht. Eine zweitürmige Kirche warf ihren unheimlichen Schatten über das Gestein. Die Menschen hasteten nach Hause, ohne ihr Beachtung zu schenken. Einmal streckte sie den Arm nach einer Frau aus, die mit zwei Kindern über den Platz lief. Die Frau kreischte schrill auf, zerrte die Kinder an den Händen und floh.
    Sah sie schon so zum Fürchten aus – ein Gespenst wie La Llorona, vor der die Leute flüchteten? War sie bald der letzte lebende Mensch auf diesem Platz? Ihr war übel vor Schwäche. Als sie Schritte hörte und sich umdrehte, geriet sie ins Schwanken. Aus dem Portal der Kirche stürzte ein uniformierter Offizier, rannte auf sie zu und rief ihren Namen. Er verwechselte sie nicht. Er hielt sie nicht für La Llorona. Er rief den einen Namen, der nur ihr gehörte.
    Es war nicht möglich. Das Land, in dem sie lebten, war unendlich weit. Zwei Menschen, die sich verloren hatten, konnten sich niemals darin wiederfinden. Aber einmal hatte sie gedacht: Hätten sie mich nicht eingesperrt, hätte ich die Erde nach dir abgesucht, bis ich dich gefunden hätte.
    Er hielt sie so fest, dass ihre Beine nachgeben durften. Seine Kleider waren feucht, aber sein Körper glühte vor Wärme. Sie lehnte sich an ihn und ruhte aus. Es würde gleich enden, es war nicht möglich und würde sich in Luft auflösen, aber den Augenblick, den es bestehen blieb, würde sie nutzen, um Kraft zu schöpfen.
    Er lachte in ihr Gesicht. »Katharina. Ichtaca. Ich will der Jungfrau von Guadelupe eine Altardecke stiften.«
    Sie musste auch lachen. Das Lachen erschütterte ihren ganzen Körper, aber er hielt sie in seinen Armen fest. Weil sie ihn so viel fragen musste, fragte sie das, was völlig unwichtig war. »Was hast du in der Kirche gemacht? Gebetet?«
    »Das ist schon möglich. Vor allem habe ich nach dir gesucht.«
    »Aber ich bin doch nicht katholisch!«, rief sie aus.
    Einen Herzschlag lang sah er sie an und hielt inne. Dann warf er den Kopf zurück und brach in ein Gelächter aus, das über den Platz schallte und ihr versprach, dass es ein Morgen geben würde, ein Entkommen und auf irgendeine Weise ein Weiterleben. Er hob die Hände, um sie um ihr Gesicht zu schließen, senkte sie aber im letzten Moment. »Wo wolltest du denn hin in der Nacht?«
    »Ich weiß nicht«, gestand sie kleinlaut ein. »Ich dachte, ich treffe vielleicht jemanden, ich … Ach Gott, ich weiß nicht, was ich dachte.«
    Wieder hob er eine Hand und ließ sie fallen, ehe sie ihr Gesicht berührte. »Tust du mir einen Gefallen? Wenn du das nächste Mal bei Nacht durch eine belagerte Stadt streunst, geh in eine Kirche. Ob die katholisch ist, ist nebensächlich. Sie ist warm, Ichtaca. Sie ist geschützt, und es gibt dort Wasser zu trinken.«
    »Wasser«, murmelte sie und geriet wieder ins Schwanken.
    Er schloss die Arme fester um sie, ohne dass seine Hände sie berührten. »Es tut mir so leid«, sagte sie. »Ich bin so furchtbar dumm.«
    »Ich auch. Und deshalb haben wir jetzt ein Problem. Hör zu, Katharina Lutenburg, was immer du mir jetzt gleich über deinen Valentin und deinen Kaiser erzählst, spielt überhaupt keine Rolle. Das hat zu warten. Für den Augenblick musst du aus

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