Im Land der gefiederten Schlange
neues Leben. Es hatte das Recht darauf, in die Welt hineinzuwachsen und von ihr dabei beschützt zu werden.
Valentin musste sie aus der Stadt schaffen, irgendwohin, wo sie in Sicherheit war. Anschließend musste er dafür sorgen, dass er nicht in der Entscheidungsschlacht eingesetzt wurde. Er wurde Vater. Sie und ihr Kind hatten niemanden als ihn, er trug Verantwortung für sie. Was aus ihnen werden sollte, wenn der Krieg verloren war, würde sich zeigen. Vermutlich würden sie in Mexiko nicht bleiben können, sondern mussten versuchen in Valentins Heimat, nach Tirol, zu fliehen. Wenn sie sich bis in die Hauptstadt durchschlagen konnten, würde Claudius von Schweinitz ihnen womöglich mit der Schiffspassage helfen. Das alles ließ sich machen. Im Augenblick zählte nur, dass sie sich außer Gefahr brachten. Zaghaft senkten sich ihre Hände auf ihren Bauch. Es gab nichts Kostbareres als das, was darinnen lag. Es gab keine größere Aufgabe, als es zu schützen.
In ihrer Nachricht hatte sie geschrieben, Valentin solle sofort zu ihr kommen, es gehe um Leben und Tod. Sie hatte die aufgeblasenen Worte satt, aber in diesem Fall trafen sie zu. Dennoch vergingen Stunden, ohne dass Valentin sich zeigte. Das Warten war eine Tortur, noch verschlimmert durch die drückende Hitze und die Bekanntgabe, dass Wasser in der belagerten Stadt fortan rationiert sei. Der Krug, den Katharina erhalten hatte, war längst leer, und die Zunge klebte ihr am Gaumen. Würde es dem Kind schaden, wenn sie nicht genug zu trinken bekam? Sie schwor sich, dass dies die letzten Stunden ihres Lebens sein würden, die sie mit sinnlosem Warten vergeudete.
Valentin kam, als die Glocken der Stadt zur Vesper läuteten. Er stieß die Tür auf, dass sie gegen die Wand knallte. Unter ihnen hatte die Sängerin in der Bar begonnen
La Paloma
zu singen. »Was fällt dir ein, mir solche Nachricht zu schicken? Weißt du, was wir hinter uns haben? Weißt du, wie viele von uns in dieser gottverlassenen Nacht gestorben sind?« Er bekreuzigte sich. In seiner wie auf den Leib geschnittenen Uniform, mit den nach hinten gestrichenen Locken, war er schöner als je. Würde ihr Kind auch so schön sein, würde es ein Sohn sein?
Wenn eine Taube an dein Fenster kommt,
Behandle sie zärtlich, denn ich bin es.
»Kruzitürken, wenn ich noch einmal dieses Lied höre, vergesse ich mich.«
»Es ist das Lieblingslied des Kaisers«, sagte Katharina. »Ich höre es jeden Tag.«
»Willst du dich beklagen? Und den Kaiser lass aus dem Spiel, der ist der tapferste Mann, der je gelebt hat. Ohne mit der Wimper zu zucken, wollte er seine Nachhut in die Schlacht führen, um die Cazadores zu retten. Nur mit äußerster Anstrengung haben wir ihn umstimmen und aus der Gefahrenzone schaffen können.«
»Valentin«, sagte Katharina, »du musst mich aus der Gefahrenzone schaffen.«
»Was muss ich? Bist du toll? Ich habe meine Besprechung wegen deiner kindischen Nachricht verlassen, ich muss auf dem schnellsten Wege zurück.«
Katharina schüttelte den Kopf. »Gestern sind drei Straßen weiter Granaten eingeschlagen. Die Schlinge wird enger, und du weißt es. Ich bekomme ein Kind von dir, Valentin. Du musst mich aus der Stadt bringen.«
»Habe ich dir vielleicht befohlen, mit hierherzukommen?«, schrie er. Sein Gesicht verfärbte sich rot. »Ich habe dir gesagt, bleib in Chapultepec, aber du wolltest ja unbedingt mit. Also lieg mir nicht in den Ohren, sondern löffle aus, was du dir eingebrockt hast.«
»In Chapultepec wäre ich jetzt in der Hand von General Porfirio Diaz«, erwiderte Katharina ruhig. »Valentin, hast du gehört, was ich zu dir gesagt habe?«
»Und ob ich das gehört habe!«, schrie er. »Dein Gerede und das verdammte Lied höre ich, während mein Kaiser mich so dringend braucht wie nie in seinem Leben – ich habe verdammt noch mal zu solchen Kindereien keine Zeit!«
»Du musst«, entgegnete Katharina. Sie sprach noch immer ruhig, aber ihr Herz begann zu rasen. »Ich habe gesagt: Ich bekomme ein Kind von dir. Das Kind hat sich nichts eingebrockt, das haben du und ich und dein Kaiser, Napoleon und wer weiß wer noch getan. Unser Kind darf es nicht auslöffeln müssen. Es muss aus der Stadt.«
Endlich hörte er sie. Sein gerötetes Gesicht erbleichte. Unten in der Bar hob die Sängerin von neuem an zu singen.
Als ich die Stadt verließ, o mein Gott,
Niemand sah, wie ich aufbrach.
»Aber das kann doch nicht sein«, stieß er heraus. »Ich habe doch mit dir kein
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