Im Land der gefiederten Schlange
zugeschlagen und im Hotel Delingencias einquartiert. Ihr Zimmer war das kleinste des Etablissements und lag über der Bar. Bei Tag und Nacht hörte Katharina mit an, was die Männer sich von der Sängerin wünschten. Und die Männer, die ihre Geliebten daheim zurückgelassen hatten und nicht wussten, ob sie morgen starben, wünschten sich unablässig
La Paloma.
Ich werde wahnsinnig, wenn ich noch einen Takt dieses Liedes höre. Ich werde wahnsinnig, wenn ich noch einmal aus dem Bett aufspringe und nachsehe, ob auf meinem Fenstersims eine Taube sitzt. Und wenn eine dasitzt, heißt das doch nicht, dass Valentin in dieser Nacht gestorben ist! So wie die Angst und das Lied quälte sie das Unheimliche, das sich an ihrem Körper vollzog. Sie war ständig müde und fand kaum noch Schlaf. Sie konnte kaum essen, und dennoch quoll ihr Körper auf, so dass sie den Schnürleib nicht mehr schließen konnte. Etwas geschah. Nicht nur um sie herum, in den Gassen und auf den Plätzen, wo das Leben vor Furcht den Atem anhielt, sondern auch in ihrem Inneren. Vielleicht hatte sie eine Ahnung und ließ sie nicht zu, weil sie zu groß war, sie allein zu tragen. Dann aber träumte sie wieder vom Malecon.
Als der Mann die Peitsche nahm, um Benito zu schlagen, stand sie auf, stellte sich neben ihn, und die Peitsche traf sie beide, wieder und wieder. Es tat nicht weh, aber es blutete in Strömen. Glockengeläut riss sie aus dem Schlaf. Santiago de Querétaro war eine fromme Stadt voll alter Kirchen und Klöster, wer aber rief in der Nacht zum Gebet? Als die Glocken verstummten, bemerkte sie, dass die Sängerin nicht
La Paloma
sang. Stille, dachte sie, obwohl nicht allzu weit entfernt Schüsse durch die Nacht hallten. Noch im Traum gefangen, tastete sie über Bauch und Schenkel und war überrascht, kein Blut zu finden. Auf einmal glaubte sie Benito zu hören, der fragte, ob sie blute, und zu ihr sagte: Das will ich dir nicht auch noch antun, dass du ein Kind von mir bekommst. Wie mit einem Keulenschlag fiel es ihr ein. Sie hatte seit Wochen nicht geblutet. Seit Monaten. Schon vor Weihnachten nicht.
Zum Tross des Heeres gehörte eine Anzahl Männer, die Nachrichten übermittelten. Mit Katharina sprach niemand, sie wurde behandelt, als wäre sie nicht vorhanden, und sie hatte auch nie versucht mit jemandem zu sprechen. In ihrem winzigen Zimmer hatte sie darauf gewartet, dass Valentin kam, sich lieben ließ und wieder ging. Heute aber kleidete sie sich an, kaum dass das erste Licht durch die Ritze des Fensterladens drang, und lief hinunter in den Speisesaal, um jemanden anzusprechen. Einen der Boten. »Überbringen Sie das Oberleutnant Gruber«, sagte sie und legte ihre Nachricht vor ihn hin. »Auf der Stelle. Es duldet keinerlei Aufschub.«
Als er protestierte, er nehme von ihr keinen Befehl entgegen und Oberleutnant Gruber stehe im Kampf, wiederholte sie mit äußerster Schärfe, was sie gesagt hatte. So lange, bis er die Nachricht nahm und ging.
Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und begann eine Tasche zu packen. Sie war verblendet gewesen, in einem Wahn gefangen – wie konnte eine erwachsene Frau, die zwei Männer geliebt und Kinder unterrichtet hatte, fünf Monate lang nicht bemerken, dass sie eines im Leib trug? Falls sie auch nicht bemerkt hatte, dass um sie herum Valentins Kaiser seinen Krieg verlor, dass sich die Schlinge enger zog und im Patio Pferde geschlachtet wurden, weil Vorräte knapp wurden, so stand es jetzt glasklar vor ihr. Sie war so müde gewesen, sie hatte nicht den kleinsten Rest Kampfkraft mehr gespürt. Die Stadt unter dem Aquädukt, in ihrer Muschelschale aus Hügeln, hatte ihr vom Tag der Ankunft an das Gefühl gegeben, nicht grundlos hier zu sein. Wenn wir hergekommen sind, um zu sterben, Valentin und ich, dann soll es eben so sein, hatte sie gedacht. Auch Josefa Ortiz lag schließlich hier begraben.
Jetzt schrien sämtliche Lebensgeister in ihr dagegen an. Wie hatte sie sich derart versündigen können? Dort draußen in den Hügeln starben Menschen, die leben wollten, und sie hockte in ihrem stickigen Zimmer und hegte morbide Gedanken. Hatte sie ihr Leben nicht genossen, hatte sie nicht getanzt und gelacht, geliebt und geweint, heiße Wecken gegessen, Tequila mit Limonen getrunken, mit Freunden Nächte durchschwatzt und in den Armen eines Mannes ihren Namen vergessen? War sie aus der Hölle von Veracruz, in der Luise und Sievert hatten sterben müssen, gerettet worden, um ihr Leben wegzuwerfen? In ihr wuchs
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