Im Land der gefiederten Schlange
wundervoll in all dem Schrecklichen, dass Katharina, noch während es geschah, wusste, sie würde es ihm im Leben nie vergessen. Er zog sie noch näher an sich und sagte: »Katharina ist meine Freundin. Wenn sie gehen soll, muss ich mit ihr gehen.« Dabei sah er seltsamerweise weder Miguel noch seine Mutter, sondern eine der jungen Frauen an.
Die Mutter sagte etwas, und Miguel meinte: »Ja, das musst du dann wohl, du hübscher Verräter, du Malinche in Mannsgestalt.« Katharina aber hörte das alles durch ein Rauschen des Glücks und begleitet vom Prasseln des Regens. Sie war noch Bens Freundin! Ben hatte sich überhaupt nicht von ihr abgewandt, im Gegenteil, er hatte sie so lieb, dass er gegen seine Mutter zu ihr hielt. Ich habe ihn auch lieb, dachte sie. Egal, was meine Mutter sagt, was Josephine und Hermann sagen, was die ganze Welt sagt. Ich werde ihn immer liebhaben, er ist mir wichtiger als sie alle.
Ben ließ sie los, nahm eine wollene Mantilla von der Wand und legte sie um ihre Schultern. »Zieh sie dir über den Kopf«, sagte er. »Der Regen ist kein Spaß. Ich bringe dich jetzt nach Hause.«
Katharina hatte keine Angst vor dem Regen. Sie hatte vor gar nichts Angst. Bens Mutter und Miguel waren schlecht zu ihr, und ihre Mutter und die anderen waren schlecht zu Ben, aber sie beide waren einander gut. Der Mantel war so lang, dass er um ihre Füße schleifte. Sie hob ihn an der Seite hoch, damit Ben mit hinunterkriechen konnte, und zog ihn über ihre Köpfe. Die Blumen ließ sie fallen und gab Ben ihre Hand. Dann öffnete Ben die Tür.
Den Regen hatte Katharina oft an ihr Fenster trommeln und die Scheibe in eine undurchsichtige Flut verwandeln sehen, aber welche Kraft er hatte und wie hart es war, gegen ihn anzulaufen, hätte sie sich nicht vorstellen können. Sie vermochten kein Wort miteinander zu sprechen, der Regen verschluckte alles, und außerdem hatten sie genug damit zu tun, sich voranzukämpfen, die Füße aus dem saugenden Schlamm zu ziehen und gegen die Wasserfluten den nächsten Schritt zu setzen. Katharina hielt Bens Hand so fest, wie sie konnte. Es kam ihr vor, als wären sie schon Stunden unterwegs. Die Tropfen peitschten auf ihr Gesicht ein, und dennoch hätte sie ewig so weitergehen wollen.
Aber sie gingen nicht ewig so weiter. Gerade war Katharina zu dem Schluss gekommen, dass der Regen weicher wurde, dass er nicht mehr so dicht war und man die Hand wieder vor Augen sehen konnte, da sah sie etwas anderes vor Augen – eine Gruppe Menschen, die ihnen entgegenkam. Sie waren in die weiten Mäntel gewickelt, deren Geruch nach Leinöl Katharina gern mochte, und trugen Schirme und Laternen, die der Regen bis auf eine ausgelöscht hatte. Die eine, die noch brannte, beleuchtete das Gesicht des lustigen Onkels Fiete. Ein schwacher Schein fiel auf ihre Mutter, die neben ihm ging, und gerade als Katharina sie entdeckte, entdeckte die Mutter auch sie. Mit einem Aufschrei stürzte sie auf sie zu, dass Regenwasser in Wogen aufspritzte, und riss die Tochter von Bens Hand weg zu sich. So sehr presste sie sie an sich, dass Katharina kaum Luft bekam.
»Meine kleine Taube. Bist du verletzt, hat er dir Böses getan?« Katharina erkämpfte zappelnd ein Stück Freiheit und blickte zu der Mutter auf. Über ihr Gesicht rann Wasser in Strömen. Ob es vom Regen kam oder vom Weinen, ließ sich nicht sagen. »Meine liebste kleine Taube. Sag mir, was hat er mit dir gemacht?«
Die Mutter nannte sie nie kleine Taube. Das tat nur der Vater, und der benutzte die spanische Form Palomita, sosehr die Mutter es auch hasste. Wer sollte ihr Böses getan, etwas mit ihr gemacht haben? Etwa Ben, ihr Beschützer, der mit ihr durch Stürme bis ans Ende der Welt gegangen wäre? Sie wollte gerade eine Antwort geben, als die Mutter sie aufschluchzend noch fester an sich drückte. Die Mutter war eine Frau voller Kraft, viel stärker als die Tanten, doch Katharina hatte diese Kraft von ihr geerbt. Mit einem Ruck befreite sie erneut den Kopf. Im selben Moment tauchte das Gesicht ihres Vaters neben dem der Mutter auf. »Palomita …«
Der Vater war auch stark. Er war der größte und stärkste Mann der Siedlung und dabei sanft und bedächtig. Bei ihm fühlte Katharina sich in Sicherheit. Sie hätte gern gehabt, dass die Mutter sie losließe und sie sich stattdessen in die Arme des Vaters werfen durfte, aber die Mutter tat nichts dergleichen, und etwas in der Miene des Vaters erschreckte sie.
»Ist ihr etwas geschehen?«,
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