Im Land der gefiederten Schlange
stammelte er mit fremder Stimme, »ist meiner Palomita etwas geschehen?«
Jetzt lockerte die Mutter tatsächlich ihren Griff und wandte den Kopf nach dem Vater. Ihr eben noch so bewegtes Gesicht war mit einem Mal starr. »Schlag diesen Teufel tot, Peter Lutenburg«, sagte sie. »Schlag ihn tot, wenn du nicht willst, dass ich es tue.«
Alles schien sich in der Spanne eines einzigen Atemzugs abzuspielen, hinter den Schleiern des langsamer fallenden Regens, im geisterhaften Licht der Laterne, die ihr Vetter Hermann auf dem Boden abgestellt hatte. Und dennoch, obwohl es so schnell ging, sah Katharina jede Einzelheit.
Das Gesicht ihres Vaters veränderte sich. Seine Lippen wurden schmal, und der erschreckende Zug trat hervor und machte ihn ihr fremd. Von Sanftheit war nichts mehr zu erkennen, aus verkniffenen Augen sprang Hass. Der Vater klappte den Regenschirm zu, hielt ihn mit dem schweren Messingknauf, der die Form eines Fisches hatte, nach oben, sprang vor Ben hin und stieß ihn zurück. Ben war größer als die meisten Indios, doch ihr Vater war größer und breiter dazu. Ben hätte ihm vielleicht ausweichen können. Aber Ben stand still. »Was hast du mit meiner Kleinen gemacht?«, schrie der Vater. »Warum habe ich nicht hingehört, als mich alle Welt vor dir gewarnt hat? Was hast du mit ihr gemacht?«
Ben hätte ihm sagen können, dass er mit Katharina gar nichts gemacht hatte und dass das Ganze in Wahrheit Katharinas Schuld war. Aber Ben sagte nichts. Der Schirmknauf aus Messing sauste auf seine Schulter nieder. Katharina schrie. »Ich war es doch«, brüllte sie, »ich bin einfach losgelaufen, ihr dürft Ben nichts tun!«
»Misch dich nicht ein.« Ihre Mutter schüttelte sie, dann hielt sie sie an den Armen fest und blickte starr hinüber zu Ben.
Der stand trotz des Schlags still. Noch einmal holte der Vater mit dem Schirm aus, und zugleich sprangen der lustige Onkel Fiete und der Vetter Hermann mit erhobenen Schirmen hinzu. An dem lustigen Onkel Fiete war nichts Lustiges mehr. Sein Gesicht war wie das des Vaters vom Hass verzerrt. »Mörderpack«, brüllte der Onkel und schlug zu. Der Hermann machte nur mit, wie er immer mitmachte, wenn er sich an irgendetwas auslassen konnte, aber der Onkel war wie von Sinnen. »Mörderpack! Frauenschänder!« Unter dem nächsten Hieb ging Ben in die Knie. Der Onkel trat nach, schlug mit dem Messingknauf zu, und Ben fiel hintenüber in den Schlamm. War das furchtbare Geräusch, das Katharina in die Ohren drang, das Splittern eines Knochens? Onkel Christoph und Stefan, die sie erst jetzt im Schatten entdeckte, standen tatenlos dabei, Stefan hatte den Mund offen, und Onkel Christoph zitterte wie ein nasser Hund.
Katharina, die wie am Spieß brüllte und verzweifelt versuchte sich loszureißen, war im eisernen Griff der Mutter gefangen. Sie würden ihn töten. Ihre eigenen Verwandten würden Ben zu Tode prügeln. Es war ihre Schuld, und sie konnte nichts für ihn tun.
Wenigstens zusehen wollte sie, so unerträglich es war. Wenigstens mit den Augen aushalten, was er mit jeder Faser seines Körpers aushalten musste, aber nicht einmal das schaffte sie. Willenlos erlebte sie, wie ihre Lider sich schlossen. Die ersehnte Schwärze blieb aus. Bilder von Ben im Schlamm vermischten sich in ihrem Kopf mit Bildern des Jungen auf dem Malecon. Sie hörte sich schreien, und dann war es nur noch eine Taube, die schrie.
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Zweiter Teil
Veracruz
Weihnachten 1845
»Mein liebliches, kluges Mädchen –
Ich bin auf meinem Weg, und sie wird mir folgen …«
6
I n dieser Nacht kam der Traum zurück.
Sie war wieder auf dem Malecon, aber der hatte seine flimmernde Buntheit verloren und besaß im Traum keinen Duft. Konturen verschwammen im Nebel, nur die Hand des Mannes stach klar daraus hervor. Katharina sah, wie die Hand die Peitsche aus dem Halter riss, sie sah die Peitschenschnur, die mit scharfem Pfeifen die Luft zerschnitt, und dann sah sie das von Furcht verzerrte Gesicht des Jungen, der hintenüber zu Boden stürzte.
Sein Gesicht.
Die Taube schrie.
Katharina stand von der Mutter gehalten, ein buckliges Päckchen zwischen ihre Körper gepresst. Wieder schnalzte die Peitschenschnur, Katharina kämpfte sich los, da traf die Schnur ihren Bauch und schlitzte ihr wie eine Machete Hemd und Haut auf. Nie zuvor war sie in einem dieser Träume verletzt worden, jetzt aber schien der Schmerz ihr den Leib zu zerreißen. Sie fiel auf die Knie, presste die Hände auf den Schnitt, dann hob
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