Im Land der gefiederten Schlange
bricht sich den Hals.«
»Darüber scherzt man nicht«, verwies die Mutter sie streng. »Wer an Mondsucht leidet, hat es auch mit der Schwermut, und ich hätte längst dafür sorgen sollen, dass deine Fensterläden verriegelt werden. Jetzt lass mich dir beim Waschen helfen, und dann leg dich noch mal hin. Es kommen nie zwei Anfälle in einer Nacht, und ich will, dass du morgen hübsch aussiehst in deinem neuen Kleid.«
Morgen war der Adventsball, den Tante Traude für Stefan gab. Stefan, der Schlaukopf der Familie, war zwei Jahre lang in Mexiko-Stadt gewesen. Zum Studieren, beteuerte Tante Traude, obwohl sie alle wussten, dass er keine Universität, sondern lediglich eine Gruppe von Professoren in der deutschen Siedlung der Hauptstadt besucht hatte. Liebend gern hätte die Tante ihn an eine Lehranstalt in die Heimat geschickt, aber das Geld dafür hätte sie nicht auftreiben können. Selbst für Stefans Aufenthalt in Mexiko-Stadt und für den Ball, den sie ihm gab, hätte sie nie genug Geld gehabt, hätte Katharinas Vater ihr nicht Anteile an seiner Brauerei verkauft.
Zwei Jahre war Stefan fort gewesen, und morgen kam er mit der Postkutsche aus der Hauptstadt zurück. Tante Traude gab in ihrem Haus einen Ball, und alle Mädchen hatten dafür neue Kleider erhalten. Katharinas lindgrünes, mit Brüsseler Spitze besetztes Kleid war natürlich das teuerste, obgleich sie sich nicht im mindesten darum scherte, während Jette und Luise ein Gewese darum machten, als würden sie mindestens der Königin von England vorgestellt. Gern hätte Katharina ihr teures Kleid der armen Josephine geschenkt, die mit einem schäbigen Gewand vorliebnehmen musste. Auch wenn es ihnen allen gutging, wie die Erwachsenen ständig betonten, ging es dem traurigen Onkel Christoph nie ganz so gut wie den Übrigen. Jo jedoch war bescheiden und mit ihrem grauen Kleidchen vollauf zufrieden.
Ihre Mutter strich ihr übers Haar, wie sie es selten tat. Niemand berührte Katharinas Haar gern, nicht einmal die Lise, die noch immer dazu verdonnert wurde, es ihr abends auszukämmen. »Komm zum Waschen, Kathi. Es ist das letzte Mal, dass ich dir dabei helfen kann. Du bist jetzt eine Frau.«
Auf schwachen Beinen stand Katharina auf. Warum es die Mutter so traurig machte, dass sie jetzt eine Frau war, hätte sie gern gewusst, doch sie fragte nicht.
»Es geht uns doch gut«, sagte Marthe und sandte ihrem Bruder einen prüfenden Blick. Sie war hinübergelaufen, um Inga ein Schultertuch für Josephine zu bringen, damit diese nicht vollends wie ein Mauerblümchen wirkte. Statt der Schwägerin hatte der Bruder ihr geöffnet, noch in Hemdsärmeln und ohne Kragen, aber immerhin frisch rasiert.
Sein Hemd wirkte im fahlen Flurlicht fadenscheinig. Warum kaufte er sich kein neues? Es ging ihnen doch wirklich gut. Die Handelsverträge zwischen den Hansestädten und Mexiko waren endlich ratifiziert worden, so dass ihnen künftig der Schutz ihrer eigenen Vertretung zustand, und die ewigen Aufstände und Kleinkriege hatten sich beruhigt. Dass die Vereinigten Staaten von Amerika im Februar Texas annektiert hatten, brauchte den Hanseaten keine Sorge zu bereiten. Sie waren keine Mexikaner, was sollte es sie also kümmern, ob Mexiko ein Stück Land im Norden gewann oder verlor? Für sie ging es aufwärts – mit jedem Tag und jedem fleißigen Handschlag ein Stück.
Traude ging es sogar so gut, dass sie Marthes Angebot, das Willkommensfest für Stefan in ihrem Haus zu geben, abgelehnt hatte. »Meinem Sohn ein Fest auszurichten steht mir zu, sonst keinem«, hatte sie in jenem Ton gesagt, der keinen Widerspruch duldete. Genauso war sie vor Jahren in Peters Schreibstube getreten und hatte erklärt, ihr stehe ein Anteil an seiner Brauerei zu. Für eine lächerliche Summe wollte sie ihn Peter abkaufen und die Erlöse benutzen, um ihren Sohn in die Hauptstadt zu schicken. »Wenn schon mein Junge auf die Ausbildung in der Heimat verzichten muss, weil ihm der Vater fehlt, auf den Unterricht in Mexiko-Stadt hat er ein Recht.«
Die Brauerei trug mehr ein als die übrigen Geschäfte zusammen. Dass die anderen keine Anteile daran besaßen, war sonderbar. Jeder wusste, wie großzügig Peter war, wenn es um ein Mitglied der Familie ging, doch mit der Brauerei verhielt es sich anders. Sie war sein Augapfel, und auch Traude hatte er nichts davon geben wollen.
Traude aber hatte noch einmal mit Stefans Klugheit und seinen Rechten angefangen, und als Peter sich davon nicht beeindruckt
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