Im Land der gefiederten Schlange
schlucken. Selbst über Durst war sie schon hinaus.
»Wirklich kein Tröpfchen?« Fiete sah zu, wie das Wasser ins Kissen sickerte. »Und auch kein Häppchen essen? Nun, dann eben später. Weißt du, was ich so bei mir überlege? Weshalb sollen wir den Tanztee für dich denn nicht hier geben? Unser Leben hier wird doch besser, wir haben so viel erreicht. Unseren eigenen Konsul haben wir, der für die Verwandtschaft seiner Frau ja nichts kann, dann haben wir den Apotheker, der fast so gut wie ein Arzt ist, und du wirst sehen, über kurz oder lang bekommen wir auch einen Pfarrer. Eine richtige kleine Kolonie haben wir uns aufgebaut, sozusagen ein Hamburg unter Zypressen. Wie klingt das für dich?«
Jettes Atem rasselte. Christoph wollte gehen, es war nicht recht zu belauschen, was diesen beiden allein gehörte, aber es gelang ihm nicht, sich loszureißen. Fiete streichelte Jettes Haar, das allen Honigglanz verloren hatte. Sah er sie vor sich, wie sie ihm am Tag ihrer Geburt in die Arme gelegt worden war, hörte er noch einmal den Jubel, der sein Haus erfüllt hatte? »Ach, Jettchen«, murmelte er, und seine Stimme klang wie von weit her. »Du willst ein Stündchen schlafen, was? Gibt ja nichts Besseres, um solchem Übel den Garaus zu machen. Was meinst du, soll dein alter Vater dir eine Geschichte erzählen, damit die Träume schneller kommen?«
Obwohl es im Zimmer heiß war, breitete Fiete noch eine Decke über Jette, dann zog er die Schuhe aus und legte sich an ihre Seite. »Die Geschichte von den Tauben haben wir nie zu Ende erzählt, was? Immer war irgendwer dabei, der sie nicht hören wollte, deine Tante Marthe oder die ehrenwerte Traude. Dabei ist es eine schöne Geschichte. Auch traurige Geschichten können schön sein, in allem Schlimmen steckt ja auch ein Gutes. Erinnerst du dich an den Anfang? Der persische Großkönig Darius brachte sein mächtiges Heer auf Schiffen nach Europa, weil es ihn gelüstete, das Land der Griechen zu erobern. Es war ein gelobtes Land, dieses Griechenland, weißt du? Ich sage dir, eines Tages fahren wir beide dorthin, wir kaufen uns weiße Sonnenhüte und spazieren zwischen noch weißeren Tempeln umher.« Offenbar hatte Fiete Mühe, sich von den Traumbildern zu lösen und zum persischen Großkönig zurückzukehren, denn er schluckte, ehe er fortfuhr: »Darius ging an Land und überzog das blühende Griechenland mit blutigen Schlachten. Seine Männer waren stark und für den Krieg gemacht, und sie errangen glorreiche Siege. Einige von ihnen aber hatten mehr als nur den Tod im Sinn. In tiefer Nacht schlichen sie aus ihren Lagern in die Dörfer, aus Liebe zu den schönen Griechenmädchen.«
Ohne es zu wollen, setzte Christoph einen Schritt in den Raum, um Fiete, der jetzt dicht an Jettes Ohr sprach, zu verstehen.
»Glaubst du, die Götter haben sie dafür bestraft? So wie bei der Malinche, der Llorona, die den Fremden liebte und dafür ihre Kinder verlor? Wenn man jung ist, fällt es einem schwer, das zu glauben, weil man sicher ist, dass in der Liebe nichts Böses steckt. Ich mochte es auch nicht glauben, Jettchen, ich war einst ganz wie du. Aber das Leben macht uns irgendwann klug, und dann begreifen wir, welch teuflische Macht in der Liebe steckt.« Wieder schluckte er, ehe er mit der Geschichte fortfuhr: »Die armen persischen Teufel gingen also auf ihre Schiffe zurück, um zur See die entscheidende Schlacht zu schlagen. Noch ehe es aber dazu kam, gerieten sie in einen furchtbaren Sturm.«
Vor etlichen Jahren hatte Christoph sich schon einmal gewünscht, ein Toter möge die Sprache wiederfinden, und mit derselben Inbrunst wünschte er sich jetzt, dass Jette gelangweilt stöhnte: Herrjemine, Vater, das hast du mir schon hundertmal erzählt. Aber Jette blieb still, und Fiete erzählte noch einmal in aller Ausführlichkeit von dem Sturm, der die stolze Flotte erfasste, ihre Masten zerbrach und ihre Planken leckschlug, und von den rasenden Fluten, die Schiffe und Männer in die Tiefe des Vergessens rissen.
»Sie sind alle gestorben, Jettchen, kein Menschenauge hat sie je wiedergesehen. Und nun stell dir die griechischen Mädchen vor, die an den Fenstern standen und auf die Liebsten warteten, nicht ahnend, dass das Klopfen an der Scheibe nie mehr ertönen würde. Wärst du ein persischer Gott gewesen, hättest du nicht auch mit diesen armen Seelen Mitleid gehabt?«
Ja, ja, ja, dachte Christoph. Warum nur bin ich kein persischer oder sonst was für ein verdammter Gott?
»Es
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