Im Land der gefiederten Schlange
Bild zurück auf den Tisch. »Ich wollt’s ihr zeigen«, murmelte er, »damit sie weiß, was ich von ihr denke. Dass ich es nicht so meinte, als ich gesagt habe, sie passt zu dem Esel im Rüschenhemd. Sie war lustig, und ich hatte sie lieb, aber ich hab’s ihr nicht gesagt, und jetzt ist es zu spät.« Mit den letzten Worten wurde der Junge, der eben noch erwachsen erschienen war, zum Kind und brach in bitterliches Weinen aus.
Vielleicht war das Dörtes Rettung – dass eins der Kinder, die ihr geblieben waren, sie brauchte. Nach kurzem Zögern wischte sie sich die Hände an der Schürze ab, ging zu Felix und zog ihn an sich. Noch war er kleiner als sie, noch konnte er seinen Kopf an ihrer Brust bergen. Dort ließ sie ihn weinen und vergrub ihr Gesicht in seinem Haar.
Katharina löste sich von Luise. »Soll ich gehen und Onkel Fiete fragen, ob er etwas braucht?«
»Das erledige ich«, erwiderte Marthe. »Du lauf nach Hause und erzähl dem Vater, was hier los ist.«
Katharina nickte und schob sich an Marthe und Christoph vorbei. »Das ist schlimm, was Felix gesagt hat«, bemerkte sie in der Tür. »Jemanden liebhaben und es ihm nicht sagen. Jemandem unrecht tun und nicht um Verzeihung bitten.«
»Was verstehst du schon davon?«, fuhr ihre Mutter sie an. »Jetzt geh und sprich mit dem Vater.«
Wieder nickte Katharina, machte aber keinen Schritt. Christoph kannte das von klein auf von ihr, dieses scheinbare Gehorchen, während ein Teil verbissen an ihrer Absicht festhielt. »Mutter«, fragte sie, »wie fängt man es an, wenn man jemanden sucht?«
»Wen willst du denn suchen?«
»Jemanden, den ich verloren habe«, erwiderte Katharina. »Jemanden, dem ich etwas zu sagen habe und den ich um jeden Preis wiederfinden muss.«
9
Im brandroten Licht der Abendsonne leuchtete das Marmorpflaster des Zócalo noch einmal auf, ehe die Nacht ihren Schleier darübersenkte. Zugleich war es, als würde der schimmernde Boden dampfen, als würde Feuchtigkeit in Schwaden verglühen, die den Platz in Schleier hüllten und sein Geheimnis bewahrten.
Der Anblick war eine Augenweide. Palmen überragten die Türme des Palacio Municipal und der Kathedrale, um sich in den flammenden Himmel zu recken. Weiß, blassgelb und rosa verputzte Mauern schimmerten mit den vergoldeten Säulen der Arkaden um die Wette, in der Luft flimmerte Staub, und dazwischen tummelte sich das Leben in seiner quecksilbrigen Tausendfaltigkeit. Auf dem Pflaster vor den Cafés und Geschäften legten Frauen ihre Decken aus, um gewebte und getöpferte Waren feilzubieten, alte Männer richteten auf Handkarren Zigarren und in Maispapier gerollte Zigaretten aus, kleine Jungen dienten sich als Schuhputzer an, und kleine Mädchen verkauften Früchte und Blumensträuße. Maultiere schleppten geduldig ihre Lasten, Straßenköter erbettelten mit Kunststücken Bissen, und vor den Kutschen der Reichen fesselte die Schönheit edler Pferde den Blick.
Dieser Platz, das Herz der Hafenstadt, besaß einen ungewöhnlichen Zauber. Er hatte die Gabe, vor dem Auge des Betrachters Not und Sorge aufzuschlucken und ein paar Stunden lang unsichtbar zu machen, so dass das Leben erschien wie in ein Festkleid gehüllt. Plaza de las armas hieß er, aber er war kein Platz der Waffen, sondern einer der Menschen. Dem quirligen Treiben hätte niemand angemerkt, dass an der Nordgrenze des endlosen Landes ein Krieg entfacht war, der jederzeit wie ein Lauffeuer bis in die Tiefe vordringen konnte. Der Zócalo von Veracruz wusste nichts von Kriegen, nichts von leeren Staatskassen und nichts von Soldaten, die ohne Sold desertieren würden. Der Zócalo von Veracruz wusste einzig, dass das Leben kurz und teuer war und dass man es in vollen Zügen trinken musste, weil der Krug, aus dem es strömte, sich nur einmal ergoss, um dann für immer leer zu bleiben.
Benito trank seinen Kaffee seit langem bitter und schwarz. Carmen hingegen ließ sich schaumige Milch, braunen Zucker und Zimt hineinrühren, um dann mit spitzen Lippen zu probieren. Anschließend blickte sie von der Tasse auf und lächelte ihm mit so viel Seligkeit zu, dass er sich schämte. Nicht zum ersten Mal wünschte er, sie würde sich nicht so unbändig über die kleinste liebevolle Geste von ihm freuen.
Sie konnten sich derlei Extravaganzen – Besuche im Café, von Kellnern servierte Getränke – nicht leisten. Benito arbeitete die Tage über in der Tuchfabrik, was ihm kaum das Nötigste eintrug. Zudem versorgte er die Pferde eines
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