Im Land der gefiederten Schlange
Nein, die Base schlief nicht – ihr Kopf fiel nach hinten, und ihre Augen schlugen auf. Ihr Gesicht erschien wahrhaftig schwefelgelb. Lag es an den Kerzen, die den Saal in Geflacker aus Licht und Schatten tauchten, oder hatte sie sich mit irgendeiner Schminke bemalt?
»He, Schwesterherz, was ist denn dir über die Leber gelaufen?«, bedrängte sie jetzt auch Hermann, und im Nu gesellten sich andere hinzu und bildeten um Jette einen Kreis. Katharina hielt noch immer ihren Arm, der wie bei einer Gliederpuppe herunterbaumelte. Ehe sie sich auf all das einen Reim machen konnte, beugte Jette sich vor und erbrach. Ein nicht endender Schwall ergoss sich über den Schoß ihres Kleides, den seidenen Rock und den Boden. Die Umstehenden sprangen kreischend auseinander.
Mit einem Satz war Onkel Fiete bei ihnen und drängte Luise und Felix zur Seite. »Aber Jettchen, was machst du denn für Sachen – und das ausgerechnet zur Weihnacht?«
Hinter ihm tauchten die Gesichter von Katharinas Vater und von Tilman Roedgen, einem kürzlich aus der Stadt Lübeck eingetroffenen Apotheker, auf. »Hatte sie das schon einmal?«, fragte Roedgen besorgt.
»Aber nicht doch, sie ist gesund wie ein Fisch im Wasser, hat nie auch nur das kleinste Zipperlein.« Onkel Fiete richtete sich auf. Sein gefältelter Kummerbund war beschmiert mit Erbrochenem. »Ein bisschen Fieber neulich, als sie sich beim Laufen überhitzt hat, das ist alles.«
»Wann ist neulich?«, fragte der Apotheker. Jette gab beim Erbrechen Geräusche von sich, die verrieten, wie sie sich quälte.
Onkel Fiete warf die Arme in die Luft. »Na, vor ein paar Tagen eben, als ich mit meinen Rangen auf einem Waldlauf war. Ich laufe regelmäßig mit ihnen, bei Regen wie bei Hitze, das härtet gegen die Widrigkeiten des Klimas ab.«
»Und nach diesem Waldlauf hatte das Mädchen Fieber? Und hat erbrochen wie heute?«
Inzwischen hatten sich bis auf die Familie des Konsuls und das Ehepaar von Schweinitz sämtliche Festgäste um sie geschart. Jette würgte noch immer, aber ihre arme Kehle gab nichts mehr her. »Nicht so wie heute!«, beteuerte Fiete. »Nicht mal einen ganzen Tag hat sie in den Federn gelegen, dann war sie wieder auf den Beinen. Sie muss etwas gegessen haben, das ihr nicht bekommen ist. Vielleicht die Krabbensuppe. Mir schien die selbst etwas eigen im Geschmack …«
»Haben Sie das Erbrochene gesehen?«, unterbrach ihn der Apotheker. »Mit Krabben liegen wir hier leider falsch, und Sie holen jetzt besser einen Arzt, auch wenn es nicht leicht sein wird, um diese Zeit einen aufzutreiben.«
»Einen Arzt? Aber können Sie denn nicht …?«
Roedgen schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mehr, als Ihnen zu empfehlen: Wenn Sie keinen Totengräber wollen, dann finden Sie so schnell wie möglich einen Arzt.«
Eine Stimme ließ alle herumfahren. Nahezu lautlos war die Frau im bronzeroten Kleid hinter die Gruppe getreten. Micaela von Schweinitz. Sie sprach Deutsch ohne Fehler, mit einer Schwere in den Silben, die den Worten Nachhall verlieh. Wie Ben, fiel Katharina ein, und ihre Brust zog sich zusammen. »Mein Bruder ist Arzt«, sagte die Frau. »Nehmen Sie unseren Wagen, unser Kutscher kennt den Weg.«
Ohne dass jemand sie hinderte, trat sie vor Jette, die sich den Leib hielt und stöhnte. Zart fasste Micaela von Schweinitz nach ihrem Arm, schob den Ärmel ihres Kleides zurück und strich mit dem Fingernagel über die wächserne Haut. Ein tiefroter Streifen bildete sich, umgeben von zwei gelblichen Rändern. »Holen Sie rasch meinen Bruder«, sagte Micaela von Schweinitz traurig. »Und lassen Sie das arme Mädchen liegen.«
Hermann, Felix und Sievert rückten Sessel herbei, um Jette, die inzwischen zum Gotterbarmen wimmerte, darauf zu betten. »Die Taube«, hörte Katharina ihre Mutter murmeln, »es war wieder die verdammte Taube.« Dabei hatte gerade die Mutter ihr beigebracht, dass der Aberglaube, der im Land herrschte, nichts als volksverdummender Humbug sei.
Heftig, wie um sich aus einem Alptraum zu wecken, schüttelte Fiete den Kopf. »Aber sie hat sich doch nur den Magen verdorben. Etwas in der Krabbensuppe oder zu viel vom Champagner, darum müssen wir doch keinen Wirbel machen.«
Micaela von Schweinitz hatte bereits Katharinas Vater eine Karte mit der Adresse ihres Bruders gegeben. Von Stefan begleitet rannte er los, während sie sich wieder zu Fiete umdrehte. »Deshalb hat Ihr Bekannter Sie gefragt, ob Sie das Erbrochene gesehen haben«, sagte sie. »Wenn ein
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