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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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waren die Tränen der Mädchen, die die Herzen der Götter erweichten«, erzählte Fiete. »Somit wurde es den Verlorenen gestattet, ein letztes Mal auf die Erde zurückzukehren und ihren Liebsten Lebewohl zu sagen. Ihre Seelen schlüpften ins weiße Federkleid von Tauben und erhoben sich aus dem Meer, um in die Dörfer ihrer Mädchen zu fliegen. Wer seine Taube nicht verscheuchte, sondern ihr sein Fenster öffnete und sie zärtlich empfing, erhielt zum Lohn einen letzten Gruß aus dem Totenreich.«
    Im Zimmer war es jetzt fast völlig dunkel. Christoph stand still da und lauschte, doch er hörte nichts mehr als Fietes Atem. Mit bleischweren Gliedern drehte er sich um, trat in den Flur und sprang vor Schreck zurück. Dicht hinter ihm stand Katharina. In den Händen hielt sie ein Tablett mit Brot und einer Suppentasse.
    »Ich wollte dich nicht erschrecken, Onkel Christoph.«
    Christoph hätte sie gern an sich gezogen und ihr gesagt: Gott sei Dank, dass du lebst. Hatte er nie zuvor begriffen, wie kostbar und gefährdet jedes dieser Kinder war?
    »Ich bin mit der Mutter gekommen. Wir haben Suppe von der Sanne gebracht, damit die arme Tante Dörte nicht kochen muss. Die Mutter sagt, Onkel Fiete soll essen, er hilft ja Jette nicht, wenn er vom Fleisch fällt.«
    »Das ist nett«, sagte Christoph. »Komm, wir stellen Onkel Fiete die Suppe vor die Tür, dann kann er sie essen, wann immer ihm danach ist.« Er nahm ihr das Tablett ab. Sie wandte den Blick nicht ab, als wäre sie entschlossen, ihn anzusehen, bis sie begriff.
    »Onkel Christoph?«
    »Ja?«
    »Ich habe Onkel Fiete gehört.«
    »Das hättest du besser nicht getan«, murmelte er und fügte stumm hinzu: Wir beide nicht.
    »Muss Jette …«, begann sie, und dann brach sie ab, bewies den Mut, der Christoph stets aufs Neue erstaunte, und verbesserte sich: »Ist Jette tot?«
    Christoph stellte das Tablett ab und legte den Arm um sie. »Komm, gehen wir nach unten. Lassen wir Onkel Fiete noch eine Weile mit ihr allein.«
    »Hoffentlich kommt die Taube zu ihm«, sagte Katharina.
    Christoph, dem keine Erwiderung einfiel, bemerkte, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Es war zu spät, um es vor Katharina zu verbergen, und dass ihr trauriger Onkel ein Schwächling war, wusste sie ohnehin. Sie legte den Arm um ihn. Wer von beiden wen stützte, war nicht auszumachen.
     
    Sie waren alle in Dörtes Küche, drängten sich wie Tiere, die sich gegenseitig wärmten. Christoph konnte es ihnen nachfühlen. Es war nicht kalt, es wurde nie richtig kalt in Veracruz, nicht einmal am letzten Tag des Jahres, und dennoch glaubte er zu frösteln. Dörte stand vor dem Küchentisch und knetete auf der bemehlten Fläche einen Teig, bewegte die Hände in der Masse, die längst schlaff geworden war.
    Auf dem hohen Stuhl ihr gegenüber saß ihre Schwiegermutter, die alte Hille, mit einer Schüssel im Schoß. Sie löste Chilischoten von Stengel und Gehäuse, warf aber alles zusammen wieder in die Schüssel. Soweit Christoph wusste, verwendete Dörte keine Chilis, so wenig wie Marthe und Traude. Vermutlich wollte sie die Alte lediglich beschäftigen. Hatte die damals wirklich den Verstand verloren – oder hatten sie sich das nur eingeredet, weil es für alle das Bequemste war? Verlor überhaupt je ein Mensch vor Schmerz den Verstand, gewährte das Leben jemals so viel Gnade?
    Neben der Alten saß Felix, Fietes Letztgeborener, der mit Eifer einen Bleistift über ein Blatt Papier führte. Gewiss erledigte er Aufgaben, die August Messerschmidt ihm aufgetragen hatte. Seine Welt drehte sich ja weiter, nur für seine Schwester stand sie von jetzt an still.
    Luise saß mit einer Handarbeit auf der Fensterbank, aber sie stickte oder strickte nicht, sondern zupfte Flusen aus der Wolle und ließ sie in Kreisen zu Boden segeln. Zwischendurch biss sie herzhaft von einem Heißwecken ab, den sonst Jette ihr wegnaschte, so dass ihr Mund mit geschmolzenem Zucker garniert war. Ein Gast, der von nichts etwas wusste, hätte annehmen können, er sei in eine friedliche, heimelige Szene geraten, und nur das Schweigen hätte ihn verstört. Vor dem Herd stand Marthe und rührte in der mitgebrachten Suppe. Sie drehte sich nach Christoph und Katharina um. »Und«, fragte sie, »hat er etwas gegessen?«
    Christoph wusste, er hätte jetzt »Jette ist tot« sagen müssen, aber er war sicher, die Worte nicht über die Lippen zu bringen. Es war nicht die erste Todesnachricht, die er zu übermitteln hatte, und daran, wie

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