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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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einfachen Männer in verschlissenes Tuch gekleidet waren, das in Veracruz genügen mochte, jedoch für die Kälte des Nordens untauglich war. In den dreißiger Jahren, während der Kämpfe um Texas, waren Soldaten in Scharen gestorben, weil es niemanden gekümmert hatte, dass sie warme Kleidung und ausreichend zu essen bekamen. Die meisten von ihnen waren Mayas aus den hitzeflimmernden Ebenen von Yucatán gewesen. Indios. Kanonenfutter in den Augen des damaligen Präsidenten Santa Anna, dem an nichts gelegen war als an seiner eigenen Heldenlegende. Der Kerl hatte im Kuchenkrieg einen Unterschenkel verloren und die Stirn besessen, seinem Glied auf Staatskosten ein Grabmal zu errichten.
    Wenigstens dieser Glücksritter befand sich inzwischen in Havanna im Exil – aber war Paredes besser, würde er für seine Männer sorgen? Benito hatte gelesen, er betrachte die Ärmsten des Landes mit Verachtung, und dass er Nahua-Blut in den Adern hatte, bedeutete nicht, dass er die eingeborenen Völker liebte. Die Soldaten trugen wie zu Santa Annas Zeiten Gewehre, die die britische Armee abgelegt und billig verkauft hatte; sie waren für Märsche im Bergland zu schwer und außerdem völlig veraltet. Als Benito Miguel einmal darauf angesprochen hatte, hatte der nur wegwerfend erwidert: »Was verstehst denn du von Gewehren?«
    Carmen drückte seine Hand, um seinen Blick zu sich zurückzuzwingen. »Bin ich das noch?«, fragte sie.
    »Bist du noch was?«
    »Dein Mädchen.«
    »Warum denn nicht?«, brachte er schnell heraus, wobei ihm nicht entging, dass das keine Antwort war. »Ich weiß, es ist unhöflich von mir, dich herzubringen und dann schweigend dazusitzen. Sei mir nicht böse, ja? Ich bin wohl einfach müde.«
    Prüfend musterte sie sein Gesicht. »Ich wünschte, du würdest aufhören, bei diesem Leuteschinder zu arbeiten«, sagte sie nicht zum ersten Mal.
    Einer der Kellner in schneeweißer Schürze kam, um sie nach ihren Wünschen zu fragen. Es bereitete ihm sichtlich Unbehagen, Indios zu bedienen, doch er bewahrte Haltung. Benito gab die Frage an Carmen weiter: »Möchtest du Kuchen? Oder Likör?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Schon dass du Geld für den Kaffee ausgegeben hast, tut mir weh, wenn ich daran denke, was du dafür aushalten musst.«
    »Ich muss nichts Schlimmes aushalten.«
    »Ich habe immer Angst …«, begann sie und brach ab.
    »Das weiß ich. Aber es gibt keinen Grund.« Er tätschelte ihr die Hand. Sie hatte Angst, dass die Aufseher in der Fabrik ihn schlugen. Sie durften Peitschen benutzen, weil unter den Arbeitern entlassene Sträflinge waren, und sie machten nach Herzenslust von diesem Recht Gebrauch. Benito jedoch wurde nie geschlagen. Er blieb für sich, leistete tadellose Arbeit und ließ sich nicht provozieren. »Aber daran liegt es nicht«, hatte einer der Kameraden mit leiser Bewunderung zu ihm gesagt. »Du hast etwas im Blick, das ihnen Angst macht. An dich trauen sie sich nicht heran.«
    Er hatte also etwas im Blick. Das war gut. Er hatte auch etwas im Herzen, und er wollte Miguel nicht erklären, was er von Gewehren verstand. Er zog Carmen seine Hand weg. Als Junge war er der Köchin davongelaufen, damit er kein Huhn töten musste, und in manchen Nächten lief er vor schwingenden Schlingen davon. Wie lange würde er dem Töten noch davonlaufen können, wie lange würde es dauern, bis das Töten ihn einholte?
    »Pass auf dich auf«, sagte Carmen leise. Dann sprang sie wie die Menge um sie auf die Füße. Ohrenbetäubendes Johlen setzte ein, und ringsum wurden Lampen entzündet, die den Platz in goldenes Licht tauchten. Benito erhob sich ebenfalls. Er war größer als die meisten, so dass er die Kutsche des Präsidenten durch ein Spalier von Soldaten zur Tribüne fahren sah. Die arme Carmen hingegen würde so gut wie nichts sehen. Kurz erwog er, sie sich auf die Schultern zu setzen, wie er es bei seiner Schwester Xochitl getan hätte.
    Männer warfen Hüte, und Frauen warfen Blumen, als Präsident Paredes, gesäumt von zwei Beratern, die Stufen hinauf auf das Podium trat. Weshalb ist er überhaupt hier?, fragte sich Benito. Ist er diesen elendig weiten Weg gekommen, nur um auf einer Holztribüne eine Rede zu halten? Kaum hob er zu sprechen an, wurde deutlich, dass seine Stimme nicht trug, obgleich sein Gesicht sich vor Anstrengung rötete. Er reckte sich auf die Zehenspitzen, und das Gejohle der Massen übertönte ihn. Benito hörte »Mexiko« und »Krieg« und »tapferes Veracruz«, alles andere

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